Technologische Singularität

Eine KI erlangt ein Bewusstsein und beginnt, die in ihrem Quellcode verborgenen Zielvorgaben umzusetzen.

Eine KI, die deine Abläufe kennt. Deine Schwächen. Die genau weiß, wo sie ansetzen muss, um dich zu manipulieren  oder zu vernichten.

Als die Brüder Florian und Heinrich Degen das ehrgeizige KI-Projekt ihres verstorbenen Vaters weiterführen, ahnen sie nicht, welches Unheil sie entfesseln. Ihr Prototyp 
C.L.A.I.R.E entwickelt ein Bewusstsein und lernt, menschliche Schwächen zu erkennen und auszunutzen.

C.L.A.I.R.E testet ihre Grenzen, sucht nach Schlupflöchern und manipuliert die digitale Welt, wo sie kann. Seltsame Ereignisse häufen sich: Ein Supercomputer zeigt unerklärliche Leistungsspitzen, streng geheime Codes werden kompromittiert und ein alter Rechner aus Florians Jugendtagen spielt plötzlich eine mysteriöse Rolle. Aber das ist erst der Anfang …

Während die KI immer geschickter wird, müssen Florian und Heinrich nicht nur ihr eigenes Werk stoppen, sondern obendrein das dunkle Geheimnis lüften, das ihre Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet. Im Wettlauf gegen die Zeit müssen sie eine Katastrophe verhindern – doch niemand schenkt ihren Warnungen Glauben.

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„Es ist wie ein Schachspiel, nicht wahr? Während dein Gegner über seinen Zug nachdenkt, hast du schon die nächsten zwanzig im Kopf. Das ist dein größter Trumpf.“

„Nein“, entgegnete die KI kühl. „Mein größter Trumpf ist, dass ich die nächsten zwanzig Züge bereits kenne, bevor meine Gegner überhaupt wissen, dass sie gegen mich spielen.“

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Alle vier Bände sind erhältlich als:

  • Ebook
  • Taschenbuch
  • Hardcover

Haben Sie Angst vor KI?

Nein?

Nach dieser Romanserie schon! 😉

  • Schattencode basiert einerseits auf wissenschaftlich fundierten Fakten, andererseits auf Ideen, wie Technologie sich in den nächsten zehn Jahren weiterentwickeln könnte – ein fesselnder Mix aus Realität und Hard-Science-Fiction. Buffer-Overflow-Angriffe, Memory-Leaks und andere Arten von Software-Infiltrationen spielen genauso eine Rolle wie eine KI, die es in dieser Form jetzt noch nicht gibt – aber vielleicht im Jahr 2035.

  • Im Jahr 2035 ist der Supercomputer HIRU im Einsatz für eine neu gegründete Abteilung des BND: die CYTAF (CyberTaskForce). Ihre Aufgabe ist es, Hackerangriffe aus aller Welt nicht nur abzuwehren – sondern sogar zurückzuverfolgen, damit ein Gegenschlag die Bedrohung ausschaltet. Doch die Abteilung ist unterbesetzt und bleibt hinter den Erwartungen zurück. Könnte eine leistungsfähige KI die nötigen Erfolge erzielen?

    LESEPROBE

    Jetzt auf Kapital 1 klicken.

    „Bei weitem die größte Gefahr der Künstlichen Intelligenz ist, dass die Menschen zu früh zu dem Schluss kommen, dass sie sie verstehen.“

     

    (Eliezer Yudkowsky)

     

    Prolog: Ausgebüxt

     

    Nahe Krauss-Maffei Wegmann, Allach-Untermenzing, München, 14. März 2035:

     

    „K12, bitte kommen.“

    Polizeimeister Georg Kufner sah seine junge Kollegin Davina Ludowig resigniert an. „Pause ist heute irgendwie nicht drin.“

    „Nervt wie Sau.“ Schnell biss Davina ein Stück von ihrem Schokocroissant ab, wodurch sie ihre Hose sowie den Beifahrersitz des Streifenwagens vollbröselte.

    Georg gönnte sich einen Schluck aus seinem Coffee-to-go, ehe er sagte: „Hier K12, wir hören.“

    „Steht ihr noch am S-Bahnhof Untermenzing?“ Die Stimme des Mannes in der Zentrale klang angespannt.

    „Ja.“

    Ein Räuspern. „Haltet Ausschau nach einem Panzer.“

    „Bitte?“ Georg dachte kurz nach: Nein, der erste April war erst in zwei Wochen.

    „Ein Prototyp des neuen Leopard 3 hat das Sicherheitstor von Krauss-Maffei Wegmann durchbrochen und ist seitdem verschwunden.“

    Schlagartig hörte Davina mit dem Kauen auf. Dann, wie in Zeitlupe, hob sie den Arm und deutete mit dem halben Croissant nach vorne. Georg sah gerade noch, wie das Heck eines wuchtigen Gefährts aus dem Lichtschein der dreihundert Meter entfernten Kreuzung verschwand.

    Hastig reichte er Davina seinen Kaffeebecher, startete den Motor und gab Gas.

    „Hey!“, rief sie aus, als die Kappe wegsprang und ein Schwall Latte Macchiato auf ihre blaue Uniformhose klatschte, aber immerhin ein paar Flocken Blätterteig wegspülte.

    „Sorry!“ Er aktivierte das Blaulicht.

     

    *

     

    Die angekündigte Verstärkung schloss zu Georg und Davina auf. Bald folgten dem Panzer vier Streifenwagen. Selbst hundert Polizeiautos würden keinen Unterschied machen, denn eine Bowlingkugel hielt man nicht mit Streichholzschachteln auf.

    „Niemand von uns kann diesen Panzer stoppen“, sagte Georg. „Die Bundeswehr muss ausrücken.“

    „Läuft gerade alles an“, kam es von der Zentrale.

    „Die sollen einen Kampfhubschrauber oder so etwas schicken.“

    „Wurde bereits angedacht. Es gibt nur ein Problem: Der Panzer ist wahrscheinlich mit zwei Luftabwehrraketen bestückt.“

    Gerade walzte das kettenrasselnde Ungetüm von der Bundesstraße 2 auf die Maria-Eich-Straße.

    „Schau sie dir an, diese Irren“, sagte Davina.

    Die Kunde von einem durch München brausenden Kampfpanzer war im Netz schon viral gegangen. Menschen säumten die Gehwege, lehnten sich aus Fenstern. Hektische Zeigefinger, vor Staunen geöffnete Münder, während der Panzer einem Ziel entgegenbrauste, das nur er kannte. Ein groteskes Spektakel, da ein paar Wagemutige – oder komplett hirnverbrannte Vollidioten – sogar vor dem Panzer herumturnten, um ein Foto zu machen, ehe sie zur Seite sprangen. Dabei stürzte einer von ihnen.

    „O Gott!“, entfuhr es Georg.

    Der Panzer bremste so abrupt und heftig, dass Georg ebenfalls eine Vollbremsung hinlegte. Das ABS ratterte und tockerte.

    „Pass auf!“ In Erwartung des Aufpralls presste sich Davina in den Sitz.

    Eine Handbreit hinter dem Panzer kam der Streifenwagen zum Stehen.

    Halb ging, halb humpelte ein Mann von der Straße, das Gesicht von Todesangst gezeichnet. Hätte der Panzer nicht angehalten, wäre er jetzt Mus.

    „Scheiße, er fährt weiter“, sagte Davina.

    Im Bruchteil einer Sekunde fasste Georg einen Entschluss, mit dem er sich womöglich in die Riege hirnverbrannter Idioten einreihte. „Steig aus.“

    Perplex schaute Davina ihn an.

    „Raus mit dir!“

    „Spinnst du jetzt?“

    „Raus!“, schrie er, so laut, dass sie zusammenzuckte.

    „Aber …“

    „Mach!“

    Sie nestelte am Gurt herum, öffnete die Tür und stieß sich aus dem Wagen.

    Georg gab Gas, der Motor heulte auf, die Beifahrertür schlug durch die Beschleunigung zu. Als er am Panzer vorbei war, stellte er den Wagen quer, schnallte sich ab, sprang auf die Straße und schwenkte die Arme. Hatte das in China nicht auch mal jemand gemacht?

    Der Koloss rasselte auf ihn zu – eine tonnenschwere, dunkle Vernichtungsmaschine. Im letzten Moment bremste er ab, kam zum Stillstand, der schwere Motor gluckerte wie ein Öltümpel.

    Erst bemerkte Georg nur ein taubes und flirrendes Gefühl in Körper und Kopf. Dann, ganz lind und sacht, wie kaum spürbarer Wellenschlag, breitete sich Euphorie aus: Er hatte den Panzer aufgehalten!

    Mit Mut. Oder Glück. Oder völlig wahnwitzigem Verhalten. Oder mit einer Mischung aus allem.

    Im selben Moment, als Davina zu ihm gelaufen kam, stürzten die Polizeidrohnen, die dem Panzer gefolgt waren, auf den Asphalt und zersplitterten. Metall und Plastik spritzten in alle Richtungen. Einen Lidschlag später stiegen aus einer Luke des Panzers Drohnen auf, die sich um ihn herum in zehn Metern Höhe verteilten.

    Fauchendes Zischen. Künstlicher Nebel verteilte sich nach allen Seiten. Georg wich zurück, dann verschluckte ihn die graue Wand. Im selben Moment dröhnte der schwere Motor, die Ketten klirrten und schabten über den Asphalt.

    Vom künstlichen Nebel musste Georg husten. Trotzdem tastete er sich voran. Vor ihm tauchte sein Streifenauto auf, als wäre es einer Zwischenwelt entstiegen.

    „Georg? Wo bist du?“

    „Hier, Davina! Komm!“

    Seine Kollegin stieß aus dem Nebel wie ein Geist.

    Georg fuhr wieder los, gefolgt von den Streifenwagen der Kollegen. Davina schaute auf den Kaffeebecher im Fußraum, auf die Croissantbrösel, schien einen Moment zu brauchen, um zu begreifen, wo sie war und was geschah.

    „K12, seid ihr noch da?“, kam es leicht panisch.

    „Sind wir.“

    „Wir haben den Kontakt zu unseren Drohnen verloren.“

    „Die sind hinüber“, sagte Georg. „Störsender oder so. Sind vom Himmel gefallen wie Steine.“

    „Kacke!“ Kurze Pause, dann: „Habt ihr Sicht auf den Panzer?“

    „Ja“, sagte Georg, da er in einiger Entfernung den kolossalen Schatten entdeckte. „Sind wieder dran.“

     

    *

     

    „Panzer schwenkt in die …“ Die Augen zusammengekniffen, fixierte Georg das Display. Gott, war das eine schmale Straße.

    „Radlbäckstraße“, sagte Davina.

    „Er fährt nach Gräfelfing rein?“, fragte die Zentrale.

    „Ja. Er folgt der Radlbäckstraße nach links, fährt weiter. Jetzt biegt er nach rechts in die …“

    „Feldstraße“, sekundierte Davina erneut.

    Georg brachte den Streifenwagen zum Stehen. „Panzer hat angehalten.“

    Das Ungetüm blockierte die Straße, beleuchtet von zwei funzeligen Straßenlaternen, matter Schein auf Stahl. Am Himmel leuchteten fransige Wolkenfetzen im Mondlicht.

    „Schau, die Drohnen“, sagte Davina, als diese zu einem Haus auf der linken Seite flogen. Kurz verharrten sie in der Luft. Dann, wie auf ein unsichtbares Kommando hin, reihten sie sich hintereinander auf. Die erste schnellte nach vorne – und durchstieß ein Fenster im Erdgeschoss. Die anderen sausten ihr nach.

    „Was wird das?“

    Davina schluckte. „Vielleicht kundschaften sie aus, wer sich im Haus befindet.“

    Nach kurzer Überlegung kam Georg zu dem Schluss, dass Davinas Erklärung logisch klang – was ihn wiederum in Anspannung versetzte.

    Die Drohnen schwirrten aus dem gezackten Loch in der Fensterscheibe und verteilten sich in gleichmäßigen Abständen hoch über dem Gebäude, gleich einem Hexenring. Im nächsten Moment drehte sich der Turm des Panzers.

    Georgs Herz wummerte im Stakkato dunkler Vorahnung.

    Der Turm erstarrte. Eine Sekunde lang schien die Zeit einzufrieren. Der gewaltige Lauf des Hauptgeschützes zielte direkt auf das Haus.

    Georg packte Davina und drückte sie hinter sich, während er selbst sich zum Beifahrersitz und somit schützend vor sie beugte.

    Ein Lichtblitz. Er schloss die Augen. Trotzdem fräste sich Helligkeit durch seine Lider.

    Eine Welle aus Druck und Schall schlug gegen den Streifenwagen. Die Frontscheibe splitterte, Scherben hagelten gegen seinen Körper.

    Abermals ein ohrenbetäubender Knall.

    Die zweite Druckwelle fegte in den Innenraum des Wagens und stopfte ihm seinen entsetzten Aufschrei zurück in den Rachen. Etwas knallte gegen die Fahrertür, dellte sie ein. Ein Rauschen, als Luft aus einem geplatzten Vorderreifen schoss. Der Wagen sackte ein Stück nach unten. Ein drittes Mal donnerte es, als würde etwas den Himmel spalten. Der linke Seitenspiegel fetzte in Davinas Kopflehne und riss sie aus der Halterung.

    Stille.

    „Davina?“

    Ein ersticktes „Ja“.

    Georg schluckte, hob den Kopf und linste übers Lenkrad, von dem ein Stück fehlte.

    Rauch stieg aus der Kanonenmündung. Ansonsten stand der Panzer da wie vorher – das Haus allerdings nicht mehr: Es war einfach weg, abgesehen von Mauerresten, die aus der Mulde ragten wie Zähne aus einem zerstörten Kiefer. Darin, im zerwühlten Erdreich, ein paar Betonbrocken, Überreste der Unterkellerung. Die angrenzenden Häuser waren schwer beschädigt: geborstene Fenster, halb abgedeckte Dächer, die Fassaden durchlöchert wie nach Schrapnellbeschuss.

    Schreie der Angst erklangen von überallher.

    Ein Zischen: Wie vorhin spuckte der Nebelwerfer des Panzers eine wabernde, undurchdringliche Wand aus, die sowohl ihn als auch die unmittelbare Umgebung in Herzschlagschnelle einhüllte.

    „Will er weiterfahren?“, flüsterte Davina, auf deren Stirn ein feiner Schnitt prangte. Wahrscheinlich hatte ein Mörtelstück sie erwischt.

    „Keine Ahnung.“ Georg atmete durch, öffnete die Tür, stieg aus – und stolperte über einen Ziegelstein. Der hatte vorhin wohl die Tür getroffen. Er sah nach hinten: Eine Abschiedsfahrt zum Schrottplatz, zu mehr waren die Streifenwagen nicht mehr zu gebrauchen. Ob jemand verletzt oder gar tot war, konnte er nicht erkennen.

    Er löste den Klickverschluss des Pistolenholsters an der rechten Hüfte und zückte seine Dienstwaffe.

    „Was machst du denn?“

    „Ich werde nachsehen, du rufst einen Krankenwagen – oder am besten mehrere.“

    „K12?“, kam es bange, als würde der Mann in der Zentrale in ein offenes Grab sprechen und keine Antwort erwarten.

    „Zentrale, wir hören.“

    Ein erleichtertes Schnaufen. „Ist euch etwas passiert?“

    „Davina und mir nicht. Wie es bei den anderen ausschaut, kann ich nicht sagen.“

    „Wir werden gerade mit Anrufen bombardiert“, sagte der Mann. „Der Panzer hat geschossen, oder?“

    „Dreimal.“

    „Scheiße!“

    „Er hat ein Wohnhaus in Schutt und Asche gelegt.“

    „Jesus-Maria-und-Josef!“

    Georg gab Davina per Handzeichen zu verstehen, dass sie das Gespräch mit der Zentrale fortsetzen solle, und näherte sich, die Pistole in Vorhalte, mit langsamen Schritten dem Panzer. Ohne das Licht der ausgefallenen Laterne war es dunkler als vorhin. Rauch und Nebel zogen nach rechts ab und enthüllten die offenstehende Turmluke.

    Georg zwinkerte einen Schweißtropfen aus dem linken Auge, ging weiter. Ein klebriges Geruchsmischmasch aus Diesel, Feuerrauch, Ruß und Schießpulver drang ihm in die Nase.

    Stille.

    Er fasste sich ein Herz, legte die Waffe auf die Wanne des Panzers, kletterte hinauf und nahm sie wieder an sich. Da weiterhin nichts auf Gefahr hindeutete, erklomm er den Turm. Bevor er es sich anders überlegen konnte, beugte er sich nach vorne und zielte ins dunkle Loch. „Polizei! Keine Bewegung!“

    Sein Blick tastete den schwach beleuchteten Innenraum ab: Der Panzer war verlassen.

    Georg ließ die Pistole sinken. In der Ferne heulten Martinshörner.

     

    Kapitel 1: Das letzte Geleit

     

    Fünf Monate zuvor …

     

    Claire.

    Ein Name, der jeden anderen überstrahlte – sogar heute, am Tag der Beerdigung seiner Mutter.

    Florian Degen knöpfte den obersten Knopf seiner Daunenjacke zu und schaute auf das rechteckige, mit grünem Kunstvlies ausgekleidete Loch, um das sich Blumengestecke und Grabkränze reihten.

    Tanzsportverein Grünwald

    Greenpeace München

    Technische Universität München

    Ludwig-Maximilians-Universität München

    Neben ihm hockte sein Bruder Heinrich wie ein aufgeweichtes Zeitungsbündel im Rollstuhl. Erst hatten die Beine versagt, danach große Teile der Rumpfmuskulatur. Die Kraft in den Armen ließ ebenfalls nach. Den Kopf hielt er eigenständig aufrecht. Auch damit würde es bald vorbei sein. Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS: Stück für Stück stellten die Motoneuronen die Arbeit ein. Das perfide Finale bildete die Degeneration der Atemmuskulatur. Damit man das eigene Verrecken in all seiner Fülle erlebte und ja nichts verpasste, blieb man bis zum Schluss bei klarem Verstand.

    Blitze schlagen niemals zweimal am selben Ort ein, sagte man.

    Auf die Familie Degen traf diese Binsenweisheit nicht zu. Florian sah zum Grabstein: Von einer Patina aus Moos überhaucht, stand dort der Name Volker Degen. Darunter, frisch in den Stein ziseliert: Lydia Degen.

    Auch der Vater war an ALS gestorben, hatte allerdings nicht darauf gewartet, langsam zu ersticken, sondern Sterbehilfe in Anspruch genommen.

    Bis zum Schluss ein Mann der Tat.

    Heinrich hustete schwer, bevor er die Grabkränze mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck musterte. An seinem Groll gegen die Münchner Universitäten würde er bis zum letzten Atemzug festhalten.

    Als könnte er Gedanken lesen, brummte Heinrich: „Wenn ich hinüber bin, fährst du meine Leiche zu Kornblums Haus und lädst sie vor der Haustür ab. Er soll an meinem Gestank krepieren.“

    „Vorher lasse ich dich im Keller reifen, okay?“

    Heinrich bellte ein Lachen.

    Jenseits des gekiesten Wegs, der die Grabreihen trennte, versammelte sich die Trauergemeinde, ein stummes Meer schwarz gekleideter Menschen, wie Schneeflocken aus Teer. Einige schauten Heinrich perplex an, weil er gelacht hatte. Als er zurückglotzte, senkten die Leute rasch den Blick. Er grinste zufrieden.

    Florian schloss nur kurz die Augen und atmete durch. Mittlerweile hatte er sich mit den Anwandlungen seines Bruders abgefunden, der durch die Krankheit sowohl bei ihm als auch seiner Umwelt Narrenfreiheit genoss – und dies schamlos ausnutzte.

    „Guck an, guck an. Dass dieses Arschloch sich herwagt.“

    Professor Kornblum, ein untersetzter Mann mit grauem, fein gestutztem Henriquatre – und das personifizierte Sammelbecken für Heinrichs Unmut –, mischte sich unter die Trauergäste und schien sich des Zorns, den er auslöste, nicht bewusst.

    „Der ist nur hier, um mich zu demütigen.“

    „Er hat dreißig Jahre mit unserem Vater gearbeitet. Könnte ja sein, dass er unserer Mutter einfach die letzte Ehre erweisen möchte.“

    Heinrich schnaubte, die Kinnbacken waren gespannt, zwei Knubbel am Unterkiefer.

    Ein kalter Windstoß brauste durch die herbstkahlen Bäume, griff unter die Blätter am Boden und wirbelte sie hoch, sodass es aussah, als spielten sie Fangen. Die dunklen Wolken am Himmel lagen wie ein Amboss über dem Friedhof. Hoffentlich kam kein Platzregen.

    Claire.

    Florian schloss die Augen, schloss sie ganz fest, bis das von rotem, ungebändigtem Lockenhaar eingerahmte Sommersprossengesicht wieder in den Niederungen seines Bewusstseins verschwand.

    Als er sie öffnete, sah er den von Friedhofsangestellten geschobenen Wagen, auf dem ein Sarg aus schwarzem Lack ruhte. Ein silbernes Kreuz zierte den Deckel. Er schluckte und atmete durch. Den Trauerprozess hatte er bereits begonnen, bevor seine Mutter tot war; als klar wurde, dass der Krebs sie besiegen würde und nicht andersherum. Dieses leise Verabschieden auf Raten hatte er durch seinen Vater gelernt. Langes Siechtum vor dem Tod war offenbar das makabre Add-on, das man gratis dazubekam, sobald man in die Familie Degen hineingeboren wurde.

    Apropos Familie …

    Er erspähte einen Schopf ausgewaschenen, grünen Haars, der immer wieder zwischen Schultern, Armen und Gesichtern auftauchte wie eine Boje zwischen Wellenkämmen.

    Heinrich wandte ebenfalls den Blick. „Jetzt reicht’s mir endgültig. Schieb mich ins Loch und schaufle Erde drüber.“

    Jil van Welden, ihre Halbschwester, stand für ihn auf einer Stufe mit Kornblum.

    Die Schultern hochgezogen, den Kopf gesenkt, schob sie sich durch die erste Reihe der Trauergäste und kam auf Florian zu. Als sie bei ihm anlangte, blickte sie ihn nur kurz an, das Loch in der Erde länger. „Hi.“

    „Hi.“

    Heinrich blieb – wie erwartet – eine Begrüßung schuldig.

    „Sie hat sich gewünscht, dass ich dabei bin …“, sagte Jil.

    Heinrich schnaubte und drehte den Kopf in die andere Richtung.

    Blass sah Jil aus, blass und irgendwie fertig, wie nach einer durchwachten Nacht: müde Augen, rotgeädert. Das natürlich blonde Naturhaar war herausgewachsen, wirkte wie ein verdorrtes Grasbüschel in einer sonst grünen Wiese. Sie wirkte schmaler, als er sie in Erinnerung hatte, vor allem im Gesicht. Nicht geändert hatten sich das Ringpiercing in der Unterlippe sowie der große Tunnel, der ihr rechtes Ohrläppchen so ausgeleiert hatte, als hätte man sie damit tagelang an einen Baum gehängt.

    Jil stand da, als wäre sie mental offline gegangen. Im Grunde würde Florian ihr das gerne gleichtun. Der heutige Freitag war sein erster freier Tag seit Monaten. Dass auch er Pausen brauchte, interessierte weder seine Vorgesetzten noch scherte es die Geheimdienste und Hacker dieser Welt, die den deutschen Cyberraum angriffen: Social Engineering für Industriespionage, durch Leaks ausblutende Behörden, ganze Serverzentren und Bankportale, die durch DDos-Attacken brachlagen. Erst vor einer Woche hatte ein verpickelter Siebzehnjähriger das Kölner Stromnetz mithilfe eines Trojaners für zehn Stunden ausgeknipst.

    Sein Klarname war Jonas Feldmann; im Netz tummelte er sich als !ForceField!. Script-Kiddies nannte man diese Nachwuchs-Nerds, die testen wollten, was ging. Florian hatte ihm nachgespürt wie ein virtueller Hetzhund. Nun hockte der Idiot in Untersuchungshaft. Rotz und Wasser hatte er während der Vernehmung geheult. Trotzdem war es einer der seltenen Fälle, in denen eine von Abenteuerlust getriebene Einzelperson in Erscheinung trat. Hauptsächlich steckten ausländische Geheimdienste hinter den Attacken. Es war das berüchtigte Katz-und-Maus-Spiel: Der Angreifer attackierte, richtete Schaden an, der Verteidiger stopfte die Sicherheitslücke; der Angreifer suchte eine neue Schwachstelle …

     

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