Magier des dunklen Pfades

Wie weit würdest du gehen, um einen geliebten Menschen vor dem Tod zu retten?

Wie weit würdest du gehen, um einen geliebten Menschen vor dem Tod zu retten? Welche Grenzen würdest du überschreiten?

Der Magier Lorgyn de Daskula lässt sein früheres Leben hinter sich und reist mit seiner todkranken Frau Aluna nach Wintertal. Den dortigen Quellen sagt man unglaubliche Heilkräfte nach. Doch Lorgyn will mehr, als seiner Frau lediglich Linderung zu verschaffen: Er will sie vor dem sicheren Tod retten. Dazu bedient er sich verbotener Magie, die über Hunderte Jahre niemand mehr praktiziert hat.
Allerdings ist er nicht der Einzige, der etwas im Schilde führt: Der Lehrmeister seiner ehemaligen Akademie sucht nach ihm, die Iros-Kirche wird auf sein Treiben aufmerksam und Wintertal selbst birgt ein grausames Geheimnis.
Lorgyn gleitet hinab auf einen Pfad in die Dunkelheit, die viel gewaltiger und schrecklicher ist, als irgendjemand ahnt.

Wie weit würdest du gehen, um einen geliebten Menschen vor dem Tod zu retten? Welche Grenzen würdest du überschreiten?

Der Magier Lorgyn de Daskula lässt sein früheres Leben hinter sich und reist mit seiner todkranken Frau Aluna nach Wintertal. Den dortigen Quellen sagt man unglaubliche Heilkräfte nach. Doch Lorgyn will mehr, als seiner Frau lediglich Linderung zu verschaffen: Er will sie vor dem sicheren Tod retten. Dazu bedient er sich verbotener Magie, die über hunderte Jahre niemand mehr praktiziert hat.

Allerdings ist er nicht der Einzige, der etwas im Schilde führt: Der Lehrmeister seiner ehemaligen Akademie sucht nach ihm, die Iros-Kirche wird auf sein Treiben aufmerksam und Wintertal selbst birgt ein grausames Geheimnis, das seinen Ursprung in einer der dunkelsten Epochen des Reiches hat.
Lorgyn gleitet hinab auf einen Pfad in die Dunkelheit, eine Dunkelheit jedoch, die viel gewaltiger und schrecklicher ist, als irgendjemand ahnt.

Im normalen Taschenbuchformat hätte dieser Roman 720 Seiten.

LESEPROBE

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Und schließlich gibt es das älteste und tiefste Verlangen, die große Flucht: dem Tod zu entrinnen.

J.R.R. Tolkien

Die Vergangenheit hat keine scharfen Klingen, die sofort töten,dachte Gerom trübselig. Sie sind rostig und vergiftet, sodass die Wunden, die sie reißt, nie heilen. Sie bleiben offen. Manchmal merkt man sie kaum, nur um jäh zusammenzuzucken, wenn der Eiter alter Taten und Erinnerungen aus ihnen quillt.

Er stützte die Hände auf den Schanktisch und seufzte. Das Stimmengewirr in der Taverne brummte ihm in den Ohren, zu laut, zu unangenehm; im überschwänglichen Zuprosten zusammenknallende Krüge, Rufe nach mehr Bier, Rufe der Freude und Verärgerung, wenn die Karten dem einen Glück bescherten und es dem anderen nahmen.
Sein Blick wanderte über die Gesichter der Anwesenden. Alles Menschen, die er kannte. Die Kälte draußen führte sie hierher, wo sie sich mit Bier und Gelächter wärmten und die Sorgen eines harten Lebens vor der Tür ließen. Doch egal wie lange sie hier hockten, egal ob sie Nordenvaards Perle aufrecht verließen oder von ihren Freunden getragen – ihre Sorgen waren geduldig, und ein jeder von ihnen hatte seine eigene Vergangenheit, seine eigenen rostigen, verseuchten Klingen.
Gerom seufzte abermals, sein Kopf neigte sich, er starrte nun auf seine Hände. Sie waren breit, die Finger dick und kräftig. Adern verliefen auf dem Handrücken, zwischen ihnen kleine Narben. Er war ein guter Handwerker, reparierte und besserte aus, trug Säcke, Kisten und Fässer; am liebsten hackte er Holz. Er genoss die monotone und auf ihre Art doch kunstvolle Bewegung. Das Axtblatt grub sich mit genau dosierter Kraft durch das Holz. Nie fuhr es in den Block und verkeilte sich dort.
Die Axt, die liebte er.
Den Griff des Dolches jedoch, der einmal im Jahr so rau und schwer wog, den ertrug er nur im Rausch der Kräuter und des Weins.
Gerom sah zu seinem Freund Toste, der mit seinen beiden Söhnen Ugdar und Rul sowie zwei weiteren Männern an einem Ecktisch saß und Karten spielte.
Als spürte er Geroms Blick, hob Toste die Augen. Ein kurzes Nicken und Lächeln, dann konzentrierte er sich wieder auf das Spiel.
„Vater, was ist?“
Seine Tochter Laris trat an ihn heran. Sie legte den Kopf schief, als sie ihn musterte, wodurch ihre schwarzen Ringellocken sacht vor- und zurückwippten.
Das Haar ihres Vaters, dachte Gerom und sah sie an, und die blauen Augen ihrer Mutter. Kein Wunder, dass ihr die meisten Burschen in Eisbach nachsteigen, dieser Gelehrte mit eingeschlossen! Dann lieber einer aus dem Dorf als ein Fremder, der so unausstehlich gestelzt redet, dass einem schlecht wird!
Gerom schob den Gedanken an den sonderbaren Kauz beiseite, der seit Sommer ein Zimmer in seiner Herberge bewohnte, und richtete sich auf.
„Zeit für meine Pfeife“, brummte er, streichelte Laris über die Schulter und ging aus dem Schankraum an der Küche vorbei zur Hintertür. Er warf seinen schweren Mantel über, griff in die Tasche, zog Pfeife und Tabakdose heraus und stopfte sie. Mit der Kerze, die eigens für diesen Zweck neben der Tür brannte, entzündete er sie und betrat den Hinterhof. Seine Stiefel knirschten im Schnee, als er an den Stallungen vorbeischritt. Links führte ein festgetrampelter Pfad zur Herberge, in der nur noch ein einziges Licht brannte: Der dicke Gelehrte ging selten vor Mitternacht zu Bett.
Gerom hielt sich rechts, folgte der Linie seiner alten Fußspuren zu der Kuppe mit dem knorrigen Baum, bei dem er spätabends zu stehen pflegte.
Genüsslich sog er an der Pfeife. Die würzige Rauchnote umschmeichelte seine Nase.
Seufzend schloss er die Augen, lauschte. Sein eigener Atem, das kaum hörbare Knistern brennenden Pfeifentabaks – und wenn man für einen Moment die Luft anhielt, die Geräusche der Taverne: Stimmen, Gelächter, das Schlagen der Eingangstür. Jetzt aber war alles gedämpft, alles ganz leise. Der Schnee schluckte die Geräusche. Das war gut.
Er öffnete die Augen, legte den Kopf in den Nacken. Keine einzige Wolke, nur die Sterne, die wie eingenähte Diamantsplitter am blauschwarzen Himmelstuch hingen, und der Mond, der die Landschaft ringsum mit silberner Helligkeit puderte. Die Nacht war rein und kalt wie Glas, und er spürte, wie die Kälte bereits durch seinen Umhang sickerte, an seinen Ohren nagte, an den Lippen, an der Nase. Nur mit seinem dichten Bart tat sie sich schwer.
Wieder zog er an der Pfeife.
Bis er fror, würde es dauern. Das hier war Nordenvaard, die nördlichste Provinz des Reiches. Hier war er geboren, hier hatte er sein ganzes Leben verbracht. Er dachte an ein altes Sprichwort und schmunzelte.
Bevor einem Nordenvaarder der kleine Zeh abfriert, ist der Rest des Menschengeschlechts schon lange tot …
Unter den knochigen Ästen des Baumes, den Blick auf die Landschaft gerichtet, ließ es sich gut nachdenken. Er brauchte diese Momente innerer Zwiesprache und Ruhe, auch wenn die Perle sein ganzer Stolz war – genau wie seine Tochter Laris. Oft zweifelte er daran, dass sie hier, im Nichts aus Eis und Schnee, wirklich zufrieden war. Aber sie beteuerte immer, ihr gehe es prächtig und das Arbeiten am Schanktisch bereite ihr Freude. Jedoch, was war das im Vergleich zu ihren Studien in Vaskalan, der Provinzhauptstadt weiter im Süden, die sie nach dem Tod ihrer Mutter abgebrochen hatte? Was war das Auffüllen von Bierkrügen und das Zubereiten von Fleischeintöpfen verglichen mit den alten Sprachen der Historiker, mit den Rätseln der Vergangenheit, die sie so faszinierten?
Unweigerlich dachte Gerom zurück an den Tag vor fünf Jahren, an dem er seine Frau Vlaja verloren hatte. Nirgends Schnee, nur das herrliche Grün der Wiesen, die blühenden Bäume, die Vögel in den Ästen zwitscherten zum Himmel, als sängen sie ein Dankeslied an die Natur.
Und dann, plötzlich, dieses Wiehern, gefolgt vom Krachen des umstürzenden Fuhrwerks, das neues Bier zur Perle brachte. Eines der Fässer erschlug sie. Von einem Moment auf den anderen war sie nicht mehr da.
So fest saugte Gerom an der Pfeife, dass seinem Mund ein Schmatzlaut entschlüpfte. Obwohl das Kraut noch nicht aufgeraucht war, schmeckte es nicht mehr. Er klopfte die Pfeife am Stamm des Baumes aus, dann ließ er sie in die Tasche seines Mantels gleiten und wartete, bis der Schmerz in seiner Brust nachließ, der sein Herz zu zerreißen drohte. Er wollte nicht, dass Laris seine Trauer bemerkte, wenn er zurückkam, und sich ihre Absicht, bei ihm zu bleiben, nur aus Mitleid weiter festigte.
Er blinzelte und rieb sich über die Augen, stierte wieder über die weiße Decke, die ihm mit einem Mal nicht mehr anmutig, sondern grausam vorkam. Unter ihr ruhte Vlaja. Er presste die Kiefer zusammen. Vlaja und einige Geheimnisse – doch welcher Ort, welcher Mensch hatte die nicht?
Du bist ein Idiot, Gerom, schalt er sich. Warum musst du nur immerfort daran denken? Quälst du dich gerne?
Gab es eine Wahl? Jedes Jahr an Reikjol, wenn der Frühling wiederkehrte, wenn alle Menschen den Winter verabschiedeten und das Erwachen der Natur feierten, wiederholten sich die Geschehnisse, als würde ein verwittertes Schaufelrad sie aus den dunklen Tiefen der menschlichen Seele schöpfen. Ja, und manchmal wollte er es auch gar nicht anders: Den Schwur, den er am Sterbebett seines Vaters gegeben hatte, würde er nicht brechen, auch wenn er seitdem auf einem dünnen, wackeligen Brett balancierte, das einen schwarzen Abgrund überspannte. Ein einziger Fehltritt …
Vor seinem geistigen Auge erschien wieder der Dolch, der so schwer in der Hand lag, die Klinge blutverschmiert …
Er schüttelte den Kopf, vertrieb die Eindrücke. Gerade wollte er sich abwenden und zurückgehen; irgendetwas allerdings hielt ihn zurück – ein Instinkt vielleicht, oder eine Ahnung. Sein Herzschlag beschleunigte sich, während sein Blick nun aufmerksam über die Landschaft tastete, über jeden Hügel, jeden Baum, jede Senke.
Er kniff die Augen zusammen, was zur Folge hatte, dass weiter Entferntes verschwamm. Verfluchtes Alter!
Doch da! Ein schwarzer Punkt auf der silbernen Schicht.
Er schluckte.
Was mochte das sein?
Ein Kralik?
Nein, die wagten sich nicht an Ortschaften, sondern lauerten in den Wäldern auf unbedachte Wanderer oder Holzarbeiter. In den fünfzig Jahren seines Lebens hatte Gerom erst ein einziges Mal von einem Todesopfer innerhalb einer Siedlung gehört. Das allerdings war nicht hier in Eisbach gewesen, sondern in Waldbruch, dem kleinsten der drei Dörfer Wintertals. Aus Gruvak, der einzigen Stadt, machten sich daraufhin zwei Dutzend Soldaten auf, das Biest zu finden und zu töten. Natürlich ohne Erfolg: Ein Kralik war zu gerissen. Er allein entschied, wer ihn zu Gesicht bekam. Eines der Biester schien auf den Geschmack von Menschenfleisch gekommen zu sein. Seit mehreren Jahren fand man jedes Mal an Reikjol eine zugerichtete Leiche, manchmal im Wald, manchmal auf den Feldern …
Rede es dir nur ein, Gerom, vielleicht glaubst du ja irgendwann daran!
Langsam näherte sich der Punkt.
Gerom entspannte sich. Zu groß und zu breit für einen Kralik. Und auch für einen Menschen. Was war es dann?
Nach einiger Zeit des Wartens runzelte er die Stirn.
Das gibt es doch nicht!
Kein Zweifel: ein Fuhrwerk!
Hinter dem Pferdegespann meinte er zwei Gestalten auf dem Bock auszumachen.
Beim Eis des Nordens – woher kommen die denn?
Der Weg führte hinaus aus Wintertal zur langen Brücke über die Sturzklamm und dem gefährlichen Pass zwischen den Eiszacken hin zu Kremal, der ersten Siedlung außerhalb Wintertals. Aber von Kremal bis hierher, im tiefsten Winter und mit beladenem Fuhrwerk, benötigte man eine Woche! Das hieß, falls alles glatt lief!
Die mussten lebensmüde sein: Schrunden und Schollen, abgehende Schneewände, Kraliks und der brutale Wind, der heute Nacht ausnahmsweise nicht durch Eisbach fegte und einem mit winzigen Eiskörnern die Haut abschälte – eine Woche überlebte dort draußen niemand. Außer vielleicht, man hatte Zelte dabei, warme Decken und genug zu essen und zu trinken. Und vor allem keine Angst. Aber warum so ein Wagnis überhaupt eingehen?
„Ganz klar lebensmüde“, brummelte er.
Plötzlich löste sich ein Schatten von dem Gefährt. Gerom brauchte einen Moment, ehe er realisierte, was passiert war: Einer der Reisenden war vom Bock in den Schnee gestürzt. Sofort kletterte der andere herunter.
„Idioten!“, knurrte Gerom und lief zu den Stallungen.
Sein Pferd schnaubte, als es ihn sah, und der Schweif zuckte rauf und runter. Nicht gesattelt. Etwas weiter entfernt stand das Pferd dieses Geschichtsschreibers. Auch kein Sattel.
„Jasko!“, rief er nach seinem Stallburschen.
Keine Antwort.
Rasch erklomm Gerom die Leiter zu dem Spitzboden, auf den sich der Taugenichts manchmal verzog, um sich vor der Arbeit zu drücken. Dann fiel ihm ein, dass er Jasko im Schankraum gesehen hatte. Fluchend kletterte er wieder herunter und strebte zur Perle. Er begann zu schwitzen. Seine Laune verdüsterte sich mit jedem Schritt, als er die Hintertür aufriss, durch die Küche in den Schankraum eilte, die Hände am Tresen aufstützte und „Jasko!“ bellte.
Jemand an einem der hinteren Tische sprang auf und torkelte mit etwas Schieflage auf ihn zu.
Jaskos Augen, die wie zwei dunkle Taubeneier in dem teigigen Gesicht lagen, waren trüb.
„Sattel mein Pferd, du Schluckspecht!“
Dümmlich nickend bugsierte Jasko seinen Wanst an Gerom vorbei, wobei er mit der Hüfte gegen eines der Bierfässer stieß, sodass es bedenklich wackelte.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Ist etwas passiert?“, fragte Laris.
Knapp erzählte er ihr, was er gesehen hatte.
Ihre fein geschwungenen Augenbrauen rutschten nach oben. „Von Kremal hierher?“
„Woher sonst?“ Er dachte kurz nach. „Hast du warmen Tee?“
Laris verschwand in der Küche. Kurze Zeit später reichte sie ihm einen Beutel, in dem sie zwei Becher und einen verschlossenen Krug verstaut hatte.
Er verließ die Taverne, doch nicht, bevor er sich eine dicke Schafswollmütze und Fäustlinge übergezogen hatte.
Jasko wartete bibbernd und zitternd auf ihn. Mehr als ein Hemd und eine fransige Weste trug er nicht am Leib. Aber er war Nordenvaarder, und das musste für ein paar Atemzüge in der Kälte reichen!
Gerom nahm ihm die Zügel aus der Hand. „Ist das Pferd dieses … Geschichtskerls schon gestriegelt?“
„Er heißt Arlo“, antwortete Jasko zwischen klappernden Zähnen. „Habe ich bereits gemacht.“
Gerom unterdrückte den Impuls, Jasko in den Stall zu schicken, um aufzuräumen – auch wenn es an sich nicht unordentlich ausgesehen hatte –, und reckte sein Kinn kurz in Richtung Hintertür.
Dankbar wieselte Jasko davon.
Hätte Vlaja an diesem Tunichtgut nicht einen Narren gefressen gehabt, hätte Gerom ihn längst mit einem Tritt an die freie Luft gesetzt.
Er atmete tief ein, laschte den Beutel am Sattel fest und hievte sich hinauf. Dann lenkte er seinen Braunen vom Hof und ließ ihn in einen lockeren Trab fallen. Er wählte den Weg durch Eisbach und nicht am Hügel vorbei durchs offene Feld. Dort lag der Schnee bereits zu hoch, auch wenn die Menge im Gegensatz zu anderen Jahren verhältnismäßig gering war. Aber es war ja auch erst der Anfang von Durlum, dem Hartwinter. Und was der Schnee nicht hielt, machte die Kälte doppelt wett. Auf Dauer würden hier draußen selbst ihm die Arschbacken zusammenfrieren!
Nicht verwunderlich, dass niemand auf der Straße war. Gelegentlich zwängte sich ein Lichtstreifen durch geschlossene Fensterläden, in den meisten Häusern jedoch war es dunkel. Entweder schlief man um diese Zeit – oder versackte in der Perle.
Galoppieren kam nicht in Frage. Egal ob die Reisenden gerade zu Eisklumpen erstarrten, er würde nicht riskieren, dass sich sein Brauner ein Bein brach oder die Fesseln an einer im Schnee verborgenen Eiskante durchtrennte.
Am Marktplatz bog er nach links und ritt am Iros-Tempel vorbei, ein aus wuchtigen Steinquadern errichtetes gedrungenes Gebäude, das Gerom eher an eine kleine Wehranlage, denn an einen Ort erinnerte, an dem man dem Gott der Sonne huldigte. Ein neuer Tempel müsste mal her anstelle dieses Ungetüms aus grauer Vorzeit.
Noch bevor er den Rand Eisbachs erreichte, wurde das Vorankommen schwieriger. Niemand wählte diesen Weg, weil es jenseits der Dorfgrenze einfach nichts gab – außer zwei Idioten mit einem Fuhrwerk!
Sein Ross mühte sich durch den Schnee. Als er die letzten Behausungen hinter sich ließ, ging es nochmals langsamer voran. Von weitem sah er den Wagen im Mondlicht, was sonderbar aussah, als wäre es eine Geisterkutsche.
Blödsinn! schalt er sich und ritt weiter.
Beide Leute saßen wieder auf dem Bock, und die Zugtiere, dem zotteligen Fell nach Hochlandponys – wenigstens die richtigen Tiere hatten diese Narren ausgewählt –, schleppten sich mit gebeugtem Kopf voran.
Als Gerom die Neuankömmlinge erreichte, rechnete er mit halbtoten Gestalten, denen Ohren und Nase schwarzgefroren waren, mit Eiszapfen im Haar und steifen Gliedern. Stattdessen zeigten sich keinerlei Spuren von Erfrierungen, weder beim Mann noch bei der Frau, auch wenn diese erschöpft und krank aussah. Weiße Brösel klebten an ihrem Umhang: Sie war es, die vom Bock gefallen war. Der Mann wirkte gleichermaßen erschöpft, insgesamt jedoch in besserer Verfassung.
Der Neuankömmling zog an den Zügeln. Die Tiere schnaubten dankbar, als der Wagen anhielt. Weißer Dampf stieg aus ihren Nüstern in den klirrenden Nachthimmel.
Dunkle Augen richteten sich auf Gerom. Der Blick war so intensiv, dass die beißenden Kommentare, die ihm auf der Zunge lagen, schmolzen und verliefen wie Schnee in der Sonne. Aufgrund der Mütze mit den Ohrenklappen und der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze sah Gerom nur einen kleinen Fleck heller Haut. Trotzdem glaubte er, dass der Kerl nicht allzu alt war. Diese Augen … stechend und intensiv, wie Punkte gebündelter Kraft. Einen Augenblick verspürte er ein Zwicken im Bauch.
Angst?
Ich habe keine Angst.
Statt einer Begrüßung schlug ihm nur Schweigen entgegen.
Ungehobeltes Pack! dachte er bei sich, zwang sich jedoch zu einer freundlichen Miene. Die waren wohl einfach zu geschafft, als dass sie einen einzigen Mucks herausbrachten.
Gerom löste den Beutel. „Warmer Tee?“
Der Mann nickte. „Das wäre sehr nett, ja.“ Seine Stimme hörte sich klar an, anders als bei Leuten, denen die Lippen eingefroren waren.
Gerom lenkte sein Pferd zum Wagen und überreichte den Beutel. Schweigend streifte der Mann die Handschuhe ab, öffnete den Krug und schenkte ein. Seine Finger zitterten kaum.
Vielleicht kommen die auch gar nicht von weit her? ereilte Gerom ein absurder Gedanke.
Der Mann half seiner Gefährtin beim Trinken. Als sie schluckte, schloss sie die Augen und seufzte. Dann packte sie ein Hustenanfall. Von Krämpfen geschüttelt beugte sie sich vornüber. Das Japsen und Würgen klang fast so schauerlich wie beim alten Ole, der vor zwei Wintern an der Keuche gestorben war.
Sofort holte der Mann ein Tuch hervor und hielt es der Frau vor den Mund. Sie wimmerte leise, und es dauerte einige Zeit, bis sie sich aufrichtete und erschöpft zurücklehnte.
Gerom verfolgte das Geschehen aufmerksam. Als er die dunklen Punkte auf dem Tuch sah, das der Mann rasch verschwinden ließ, dämmerte ihm, warum die beiden nach Eisbach gekommen waren.
Der Mann bemerkte Geroms Blick und erwiderte diesen, nicht abweisend oder gar böse, sondern als wollte er sagen: Du weißt jetzt, dass sie krank ist – und weiter?Gerom räusperte sich. Wann hatte er sich das letzte Mal verlegen gefühlt oder geschämt? Der Kerl war ihm unheimlich. Trotzdem, er konnte sie schlecht hier draußen stehen lassen, allein der Frau wegen. Ihre Augenlider flatterten. Sie schien kurz vor einer Ohnmacht.
„Kommt“, sagte Gerom, „ich bringe euch zu meiner Taverne. Dort könnt ihr euch erholen.“
Einen Moment zögerte der Mann. Nach einem besorgten Blick auf seine Gefährtin nickte er. „Danke.“
Mit einem unwilligen Schnauben stemmten sich die Ponys ins Geschirr.
Gerom ritt voran. Obwohl er im Grunde keine Lust dazu verspürte, drehte er sich nach einiger Zeit im Sattel herum. Keiner sollte sagen, Gerom Orfolei trete die Regeln der Gastfreundschaft mit Füßen – selbst wenn sein Gegenüber da weniger Skrupel zeigte.
„Ich heiße übrigens Gerom.“
„Lorgyn“, erwiderte der Mann leise. „Und das ist meine Frau, Aluna.“
„Freut mich, eure Bekanntschaft zu machen.“
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, kam es zurück.
Unmerklich zuckte Gerom mit den Schultern. Wenigstens war er nicht der Einzige, der log.

 ENDE DER LESEPROBE

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