KARL SEITZ ERMITTELT
Der knurrigste Stinkstiefel der Münchener Mordkommission wird nicht nur von Kriminellen gefürchtet!
Ein ungleiches Ermittlerduo muss sich zusammenraufen, um im ersten Fall einem Serienmörder auf die Schliche zu kommen, der mittelalterliche Foltermethoden praktiziert.
Das Besondere bei dieser Krimireihe: Zwar gibt es einzelne Fälle, die aufeinander folgen, doch sie haben etwas miteinander zu tun. Zum Beispiel spielt Karls verschwundene Frau, deren ungewisses Schicksal ihm bereits in Band 1 zusetzt, auch später noch eine Rolle …
IUGULUS wurde bereits von Ulla Müller in „Ullas Buchtipps“ auf Bayern 1 vorgestellt und für sehr gut befunden.
Ein miesepetriger Kommissar jagt einen Serienkiller - Gänsehaut, Humor und überraschende Wendungen
Launisch, aufbrausend und bissiger als ein Yorkshire Terrier mit Tollwut – nein, nicht der Mörder, sondern Karl Seitz, Hauptkommissar der Münchener Mordkommission: Vor ihm zittern nicht nur Kriminelle, sondern auch die eigenen Kolleginnen und Kollegen.
Bereits nach dem ersten Mord – einer Steinigung – ahnen Seitz und seine Assistentin Maria Strobl, dass dies nur der Beginn einer Reihe grausamer Tötungsdelikte ist. Sie sollen recht behalten. Trotz ihrer Ermittlungen bleiben sowohl der Serientäter selbst als auch sein Motiv lange Zeit im Verborgenen. Persönlicher Rachefeldzug? Religiöser Wahn? Die pure Lust am Töten? Erschwerend kommt hinzu, dass zwischen den Opfern keinerlei Verbindung zu bestehen scheint.
Je länger sich die Suche zieht, desto mehr gerät Seitz unter Druck, vor allem, als er merkt, dass der Fall nicht einmal vor seinem Privatleben Halt macht – und der Mörder ebenso wenig.
IUGULUS – unerwartete Wendungen, Gänsehaut-Momente sowie humorvolle Passagen, dazu eine Prise Lokalkolorit: Begleiten Sie Karl Seitz bei seinem ersten Fall!
LESEPROBE
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Ein Traum?
Blaue Augen, ein zwiefacher Sog, dem er sich nicht zu entziehen vermochte. Groß waren sie, makellos, die Pupillen geweitet. Ohne zu blinzeln, fixierten sie ihn, nagelten ihn fest. Es gab nur eine Möglichkeit: Man musste in ihnen ertrinken, man hatte das Gefühl, das eigene Leben schwämme darin. Ein gemeinsames Leben. Ein glückliches Leben. Er fühlte sich zwischen Werden und Vergehen gefangen, sein Sinn ging wunderbaren Traumbildern nach. Nähe, Liebe, Kinderlachen – ein Strom aus Glückseligkeit, der bis in den letzten Winkel seines Ichs drang. Je länger er unter dieser Augen Bann stand, desto mehr Dinge sah er. Er meinte, die Iriden wären eine Nacht voller Sterne, er meinte, Einsprengsel aus Bernstein schimmerten in den Augen. So wundervoll, so schön. Einbetten wollte er sich in dieses Gefühl, dass zwei Seelen sich anblickten, die einfach zusammengehörten. Die nicht in den Mahlstrom des Alltäglichen gesaugt wurden, die weit über dem Gewöhnlichen schwebten. Weit über dem Vergänglichen. Weit über dem Sterblichen. Sie waren zwei Tränen auf der Wange der Ewigkeit. Dann spürte er etwas anderes: etwas Störendes …
***
Maria Strobl unterdrückte ein Stöhnen. Es war angesiedelt zwischen wirklichem Schmerz sowie Entrüstung aufgrund der eigenen Dämlichkeit.
„So eine Kacke“, murmelte sie und bereitete sich mental darauf vor, was es bedeutete, in ihrem Zustand in die Knie zu gehen und die hinuntergefallene Akte aufzuheben. Blätter hatten sich gelöst und waren herausgerutscht. Das würde das reinste Martyrium werden. Unvorstellbare Qualen würde sie ausstehen müssen.
Ein Engel kam herbei und half ihr.
Gut, es war ein übergewichtiger Engel, der ein Judas-Priest-Shirt trug, das lange, etwas verfilzte Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte und einen gabelartigen Goatee präsentierte, der ihrer Meinung nach gestutzt oder besser gleich entfernt werden sollte.
Trotzdem war Maria heilfroh, als der Engel sich bückte, die Blätter in die Akte stopfte und ihr diese reichte.
Sie lächelte, obwohl selbst diese winzige Mimik ausreichte, um den Takt dieser nachgerade widerlichen Maschinerie in ihrem Kopf zu beschleunigen, deren einzige Aufgabe darin bestand, ein ganz übles Pochen hinter den Schläfen zu erzeugen. „Danke, Benny, du bist der Beste.“
Er musterte sie kurz, aber interessiert. „Geht’s dir nicht gut? Bist ein wenig blass um die Nase. Soll ich dir einen Kaffee bringen?“
„Das wäre der absolute Wahnsinn“, sagte sie. „Vielleicht habe ich mir ja etwas eingefangen oder so.“
„Kein Problem. Habe gerade eh nix zu tun.“
„Super.“
Maria schleppte sich zu ihrem Platz, ließ sich in Zeitlupentempo in den Bürostuhl sinken, platzierte die Akte neben der Computertastatur, schmiegte den Rücken gegen die Lehne und schloss für einen Moment die Augen.
Schwindel.
Sie riss die Lider auf und atmete mehrmals tief ein und aus. Eines war klar: Sollte sie nochmals reihern, wäre sie tot. Ihr Kopf würde explodieren. Man würde ihre Leiche zum Kalkrieder in die Rechtsmedizin schaffen. Der würde sie nicht mal aufschneiden müssen, sondern anhand des Gestanks, der ihrer Speiseröhre entwich, sofort wissen, was los war: Tod durch Hangover.
Bier und Wodka-Bull. In unerhörten Mengen.
„Das war einfach zu krass“, wisperte sie und schwor sich in diesem Moment, nie wieder auch nur einen Tropfen Alkohol zu trinken. Diese scheiß After-Work-Party mit ihren Freundinnen! Nein, mit diesen elenden Teufelsweibern, die sie so hundsgemein abgefüllt hatten!
Des ist ja so genial, dass du nun Kommissarin bist! Des freut uns voll!
„Ja, vielen Dank auch …“
So ein verdammter Overkill.
Sie unterdrückte ein Seufzen und schaute auf den Bildschirmschoner, auf dem der Schriftzug Mordkommission München um die eigene Achse rotierte, ein Anblick, der sofort das Rührgerät in ihrem Magen in Gang setzte. Sachte bewegte sie den Oberkörper nach vorne und stupste die Maus an.
Der Bildschirmschoner erlosch und machte der Windows-Oberfläche Platz. Das Hintergrundbild zeigte ihre Freundinnen und sie bei der Faschingsfeier dieses Jahr.
„Ihr elenden Hexen …“ Flehend sah sie zur Uhr in der Taskleiste. Kurz vor drei Uhr nachmittags. Noch zwei Stunden, dann Wochenende.
Der Gedanke an ihr Bett erfüllte sie mit wohligem Schaudern.
Morgen wäre alles besser.
Sie schluckte das eklige Gefühl von Galle und erbrochenem Energydrink zurück und schaute auf die Akte. Fall abgeschlossen. Nur gut, dass sie gestern die letzten Zeilen getippt und heute nur alles hatte ausdrucken müssen. Den Rest der Zeit hatte sie damit verbracht, im Zweistundentakt möglichst geräuscharm in die Toilette zu kotzen.
„Und hier der Kaffee für die fesche Dame“, sagte Benny und reichte ihr eine Tasse, aus der sich fachmännisch aufgeschäumter Cappuccinoschaum wölbte.
Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Danke.“
„Was steht heute noch an?“, fragte er, fügte jedoch rasch hinzu: „Dienstlich, meine ich.“
Maria lachte, jedoch nur kurz, da ihr ein kleiner, fieser Kobold einen glühenden Nagel durch die Schädeldecke jagte. „Die Akte beim Chef abgeben“, sagte sie und seufzte.
Benny schaute über den Computermonitor hinweg zum Büro besagten Chefs, Karl Seitz mit Namen, dessen Laune jedes Mal, wenn das Wochenende vor der Tür stand, extrem mies war. „Heute ist Freitag.“
Zwei Blöde, ein Gedanke, rezitierte Maria in Gedanken den Lieblingsspruch von Lilly, ihrer besten Freundin.
Nein, eine Hexe wie all die anderen auch!
Fast hätte sie gelacht, besann sich jedoch ihres Brummschädels wegen eines Besseren.
Benny räusperte sich. „Ich will ja nix sagen, aber …“ Aus einer Beintasche seiner Armee-Hose förderte er eine Kaugummipackung zutage, zog einen Streifen heraus und legte diesen auf die Akte. „Du stinkst wie ‘ne Schnapsbrennerei.“
Mit einem Schlag musste sie sich zusammennehmen, dass sie nicht losheulte. Da war sie endlich dort, wo sie sich seit dem Abitur hingeträumt hatte – und sie hatte nichts Blöderes zu tun, als sich abzuschießen und mit einer Alkoholfahne in die Arbeit zu steuern. Machte sicherlich einen tollen Eindruck!
Herrgott, jetzt reiß dich am Riemen! Wer saufen kann, der kann auch arbeiten!
„Das ist etwas … aus dem Ruder gelaufen gestern. Wollte ich gar nicht.“
Benny grinste. „Ich sag’s keinem.“
Maria nahm die Tasse, führte sie an die Lippen, trank, seufzte und leckte sich den Schaum von der Oberlippe – was Benny offensichtlich gefiel, denn er beobachtete sie eingehend und hatte einen leicht verträumten Ausdruck im Gesicht.
„Ist irgendetwas?“
Er zuckte zusammen. „Nö, was denn? Ähm, also viel Spaß beim Seitz. Und schönes Wochenende“, murmelte er und zog sich zurück.
„Jo, dir auch.“
Stand Benny auf sie? Zwar war er nett und auch zuvorkommend, aber trotz aller inneren Werte konnte sie weder mit seiner Haar- und Barttracht noch mit seinem Kleidungsstil etwas anfangen. Obendrein hatte er nach eigenem Bekunden ein Faible für Online-Rollenspiele und gewann Sport rein gar nichts ab. War zwar nicht verwunderlich, wenn man seine Brötchen als IT-Freak und Kriminaltechniker verdiente, man sich also mit dem Knacken von Handy- und Computerpasswörtern sowie der Beweissicherung an Tatorten befasste, nur eben auch nicht gerade das, was die meisten Frauen als besonders anziehend erachteten.
Genauso wenig gefiel ihr allerdings Clemens Dillhager, der so ziemlich das genaue Gegenteil von Benny war: immer adrett gekleidet, die Haare gestylt, Duftwasser, smart, ein fein getrimmter Kinnbart. Clemens, der mit ihr und Seitz eines der Ermittlertrios der Mordkommission bildete, war ihr einfach zu schnöselig. Zudem brüstete er sich damit, den absoluten Riecher zu besitzen, was Mordmotive und dergleichen anging. Ein Dampfplauderer eben: So nannte man solche Typen in Bayern. Außerdem war er verheiratet und hatte vor einem halben Jahr eine Tochter bekommen. Heute war sein letzter Tag der zweimonatigen Elternzeit, die er genommen hatte. Am Montag würde er zurückkehren, was Maria nicht in einen Begeisterungstaumel versetzte, sie aber auch nicht störte. Sie kamen ordentlich miteinander aus, und das reichte, um effektiv zusammenzuarbeiten.
Sie trank den Cappuccino aus, wickelte den Kaugummi aus dem Stanniol und schob ihn in den Mund. Nachdem sie fünf Minuten konzentriert darauf herumgekaut hatte, warf sie ihn in den Mülleimer und hauchte sich verstohlen in die Hand: Wenn überhaupt, dann eine kaum wahrnehmbare Note von Wodka.
Sie nahm die Akte und stand auf. Ihr Magen rumorte leicht, doch es war auszuhalten. Sie straffte ihre Haltung und strebte mit gespieltem Eifer zu Seitz’ Büro. Nein, Karls Büro. Am Montag, nachdem er ihr die Urkunde überreicht hatte, bot er ihr im selben Atemzug das Du an. War auf jeden Fall gewöhnungsbedürftig.
Karl residierte in einem angrenzenden Raum, der vormals durch eine Tür abgetrennt gewesen war. Die jedoch hatte er vor einigen Wochen aus den Angeln gehoben und irgendwo im Keller verstaut. Den Grund dafür kannte Maria nicht. Ehrlich gesagt konnte sie des Öfteren nicht ergründen, geschweige denn nachvollziehen, was Karls Beweggründe waren, dies und jenes zu tun. Oder eben nicht zu tun.
Sie klopfte gegen den Türrahmen, wartete auf eine Reaktion. Da diese ausblieb, warf sie einen Blick um die Ecke: Karl war nicht an seinem Arbeitsplatz. Statt abzudrehen und ihn zu suchen, verharrte Maria und ließ ihren Blick über den U-förmigen Schreibtisch wandern, auf dem Chaos herrschte wie in einer Grabbelkiste beim Ein-Euro-Discounter: einzelne Blätter, dem Anschein nach wahllos verteilt, neben dem Monitor ein schiefer Turm aus Ordnern, der von einem massiven Locher gestützt wurde, eine offene Blechdose, in der sich unzählige Stifte befanden, von denen, wie sie Karl kannte, bestimmt kaum einer schrieb. Gekrönt wurde die Unordnung von einem Mosaik verschiedener Post-its, neongelb oder grelles Orange, die an allen erdenklichen Stellen pappten – mindestens ein Dutzend davon am Monitorgehäuse – und natürlich nicht nur eine Telefonnummer oder ein Schlagwort aufwiesen, sondern so vollgekritzelt waren, dass man der Kryptologie kundig sein musste, um sie lesen zu können. Trotzdem übte diese Unordnung eine groteske Faszination aus, da Maria nicht verstand, wie man inmitten dieses Tohuwabohus irgendetwas fand, geschweige denn in der Lage war, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Sie wäre in diesem papierenen Schlachtfeld hoffnungslos verloren. Einen Moment überlegte sie, ihm die Akte einfach auf die Computertastatur zu legen, den einzigen Bereich, der frei von Zetteln war. Nein, er hatte gesagt, sie solle ihm die Akte persönlich vorbeibringen. Ihr letzter Blick fiel auf das Familienfoto, das Karl und rechts neben ihm seine zwei Kinder zeigte. Zu Karls Linken befand sich eine weitere Person, die man allerdings nur erahnen konnte, da sie durch einen schwarzen Panzertape-Streifen vollständig verdeckt war, ähnlich der „Zensiert“-Balken in Zeichentricksendungen.
Jeder im Dezernat wusste, was los war, doch keiner sprach es an. Zumindest nicht in Karls Beisein. Trotzdem waren in den letzten zwei Jahren so viele Gerüchte ins Kraut geschossen, dass Maria den Eindruck hatte, es gab mehr Verschwörungstheorien über Karls Frau als über Area 51.
Sie ging zurück in ihr Büro und genoss die Stille, da Clemens nicht da war, nahm nach ein paar ruhigen Atemzügen die leere Tasse und brachte sie in die kleine Küche des Morddezernats, das in diesem Stock des weitläufigen Gebäudes untergebracht war. Natürlich piepte die Spülmaschine.
Maria unterdrückte ein Seufzen. Diese Woche war sie zum Küchendienst eingeteilt. Verdammte Axt! Sie öffnete die Klappe und schaltete die Maschine aus. Statt auszuräumen, stellte sie ihre Tasse in die Spüle, wo sich bereits einige ihrer ausgetrunkenen Artgenossen drängten. Später. Wenn sie sich jetzt darum kümmerte, in der Küche klar Schiff zu machen, würde sie beim Gespräch mit Karl wahrscheinlich umkippen.
Nachdem sie hinaus in den Gang geblickt hatte – keiner da –, steuerte sie auf das ehemalige Büro von Katrin Fischbach zu, die sich vor ein paar Wochen hatte versetzen lassen. Im Moment war es ungenutzt, aber Maria vermutete, dass Karl dort war, um sich – wie jeden Freitag – die Vermisstenanzeigen reinzuziehen. Spielte dabei wirklich Hoffnung eine Rolle? Oder Selbstgeißelung?
Sie begab sich zum Ende des Korridors, passierte dabei zwei weitere Büros sowie Bennys Rechnerhöhle, in der offene Computergehäuse herumlagen, aufgeschraubte Laptops, auf einem Tisch ein Berg aus Handys. Am jenseitigen Ende seines Büros befand sich ein schwarzer, halbrunder Schreibtisch mit sage und schreibe drei großen Flachbildschirmen. Benny selbst nannte ihn Kommandobrücke. Auf Maria wirkte der Platz eher wie eine Festung, denn man sah nur die Rückseite der Monitore und kaum etwas von Benny selbst. Sobald allerdings jemand den Raum betrat, linste er argwöhnisch durch die Lücken der Bildschirme, um mitzubekommen, wer sein Reich aus Festplatten und Grafikprozessoren betrat, ähnlich einem Drachen, der über seinen Goldschatz wachte. Es gab ein paar Thesen, weshalb Benny so erpicht darauf war, dass ihm niemand auf die Displays schaute: Karl meinte, er ziehe sich ab und an Pornos rein; Clemens, er gucke sich während der Arbeit die ganze Zeit Videos von Metal-Bands an. Maria war überzeugt, dass er Computerspiele zockte. Im Moment saß Benny in seinem ergonomischen Drehsessel und telefonierte, während er mit der freien Hand eine kleine Yoda-Figur aus Gummi knetete. Das machte er, hatte er einmal erklärt, um seine vom Mausklicken verkrampften Finger zu lockern.
Leise huschte Maria vorbei und erreichte Fischbachs ehemaliges Büro. Ihr Name war inzwischen entfernt worden, doch damit allein ließ sich die Erinnerung an sie nicht tilgen. Sie war eine verdammt gute Polizistin gewesen, kompetent, freundlich, aber auch durchsetzungsfähig, wenn es sein musste. Sie und Seitz waren ein perfektes Gespann gewesen, ein Duo Infernale, das eine Aufklärungsquote vorwies, von der die anderen Teams nur träumen konnten. Seitz: unorthodox, sperrig, doch auf seine Art genial. Fischbach: kühl, rational und mit einem Verstand gesegnet, der exakter arbeitete als eine Breitling.
Maria atmete durch, straffte sich und klopfte an die Tür. Schade, dass es dieses Duo nicht mehr gab. Sie, Maria, hatte davon profitiert, ihre Lernkurve war durch die Decke gegangen, sie hatte jedes Wort, jede Vorgehensweise verinnerlicht.
„Was denn?“, kam es gereizt durch die Tür.
„Ich bin’s, Maria. Habe die fertige Akte.“
Sie hatte die Hand auf der Klinke, zögerte jedoch, da Karl sie nicht hereinbat. Heute ritt ihn der Teufel offenbar wieder richtig, Freitag hin oder her. Kein Wunder, dass Katrin Fischbach es irgendwann nicht mehr mit ihm ausgehalten hatte. Seit ihrem Weggang pendelte er noch viel schlimmer zwischen den Extremen, als wäre sie eine Art Notfallsicherung gewesen, die ihn beizeiten vor der Kernschmelze gerettet hatte. Wenn nun der Reaktor überhitzte, gab es keine Notfallabschaltung mehr, sondern nur den GAU.
„Komm rein.“
Sie drückte die Klinke. Augen zu und durch …
Karl saß vor dem Rechner und stierte auf den Monitor, die rechte Hand auf der Maus, die linke strich über den schwarzen Schnauzer, den Maria genau wie Bennys Goatee als optischen Unfall einstufte. Er trug ein schwarzes Poloshirt, aus dem es die Oberarme herausdrückte wie überdimensionierte Weißwürste, die Muskeln zwar zu erahnen, doch begraben unter einem Speckmantel. Im Sozialraum gab es ein Album, das Schnappschüsse aus dem Polizeisport zeigte. Auf einigen Bildern war auch Karl zu sehen, ein bisschen jünger zwar, trotz des untersetzten Körperbaus allerdings durchtrainiert, Stiernacken, dicke Muskelstränge.
Maria stand jetzt vor dem Schreibtisch und kam sich wie damals vor, in der Schule, beim Rattleder, der einen Pik auf sie gehabt hatte. Einmal hatte er sie fünf Minuten vor der ganzen Klasse vor dem Pult stehen lassen, ohne sie zu beachten.
Nicht aufregen, Maria, bleib gelassen …
„Leg’s hin“, sagte Karl abwesend und drehte mit dem Zeigefinger das Scrollrädchen der Computermaus.
Sie warf ihm die Akte neben den Monitor, machte auf dem Absatz kehrt und steuerte schnurgerade die Tür an. Nicht weiter schlimm, wenn er heute zickte. Bock auf reden hatte sie sowieso keinen.
„Magst ein Bier?“
Seine Stimme erwischte sie im Rücken – unerwartet und schneidend wie ein aus dem Hinterhalt heranzischender Wurfstern.
Sie blieb stehen, drehte sich langsam herum und verfluchte sich dafür, dass ihr eine Blutwelle ins Gesicht schwappte.
„Danke, aber nicht im Dienst, Chef.“ Sollte flapsig klingen, klappte jedoch nicht, weil ihr der plötzliche Druck in der Kehle das Gesagte eine Oktave höher rausquetschte.
„Aber gerne am Abend davor, oder?“
Sie schluckte. „Was ich abends mache, ist ja wohl meine …“
„Nicht wenn Clemens in Elternzeit ist – und ich jemanden brauche, der zu hundert Prozent einsatzfähig ist!“
Welcher Arsch hatte geplappert?
Benny?
Nein, der würde sie nicht hinhängen. Sie dachte nach, ignorierte das Pochen in ihrem Kopf, als würde jemand in Endlosschleife eine Tür besonders laut zuknallen.
Einmal, während sie in der Toilettenkabine gekotzt hatte, vernahm sie Geräusche, Schritte und fließendes Wasser. Sofort hörte sie auf, hustete nur ein paar Mal erstickt und wartete, bis die Person wieder ging.
Wer konnte einfach seine Fresse nicht halten? Wer musste alles ausplappern?
Doppi!
Gabriele Doppinger, die Sekretärin von Jakob Fillner, dem Chef des Morddezernats. Auch wenn sie für Fillner arbeitete, galt ihre Zuneigung einzig und allein Karl Seitz. Sie himmelte ihn geradezu an und trug ihm alles zu, was sie wie ein Industriestaubsauger in sich hineinschlang: jeden Fetzen Tratsch und Klatsch, jedes private Geheimnis, auf das sie „ganz zufällig“ stieß.
Dieses elende, überschminkte Plappermaul!
Maria spürte jeden Pulsschlag hinter der Stirn, erwartete, dass jeden Moment die Haut aufplatzte und ihr das Blut links und rechts im Takt ihres rasenden Herzens aus den Schläfen spritzte.
„Sorry“, sagte sie. „War nicht beabsichtigt.“ Eigentlich hatte sie gar keinen Bock darauf, zu Kreuze zu kriechen, doch Karl war eben der Boss.
„Sorry, sorry“, äffte er sie nach. „Soll ich dich zum Alkoholtest bitten und anschließend hochkant rauswerfen, weil du trunken im Dienst bist?“
Sie reckte das Kinn vor. Eine weitere Entschuldigung würde er nicht bekommen. Wahrscheinlich war er nur neidisch, da er niemanden hatte, mit dem er abends feiern gehen konnte. Auch kein Wunder: Mit dem Kotzbrocken würde es nicht mal der Dalai Lama aushalten! Maria hätte ihm zu gern an den Kopf geklatscht, was für sie der Grund war, weshalb seine Frau von einem auf den anderen Tag spurlos verschwunden war!
Sie öffnete den Mund, doch bevor sie ihrer Wut die Stimme leihen konnte, ging ihr Verstand dazwischen: Es gab bei Seitz einige Minenfelder. Alles jedoch, was mit seiner Frau zu tun hatte, war mehr als nur ein Minenfeld – es war der Archetyp aller Todeszonen.
„Ist was?“, fragte er. Seine Stimme klang rau, bedrohlich, als ahnte er, entlang welcher Bahnen sie dachte.
Langsam atmete sie aus. „Nein.“
Schmidthalter, der Alpha-Rüde der Spurensicherung, hatte sich vor gut einem Jahr abfällig über Karls Frau geäußert. Ergebnis: gebrochene Nase. Das daraus resultierende Ermittlungsverfahren hatte Karl unbeschadet überstanden, weil der Polizeipräsident sich für ihn verwendet und anschließend eine Omertà verhängt hatte. Auch Fillner, Karls direkter Vorgesetzter, hielt meist die schützende Hand über ihn. Seit dem Vorfall jedenfalls liebten Schmidthalter und Karl sich inniglich.
Karl wandte den Blick ab, sah kurz auf den Bildschirm, dann zur Akte. „Ich hoffe, das Papier stinkt nicht nach Schnaps.“
„Lustig.“
Karl lachte kurz auf. Es war ein ehrliches Lachen, und es zerstreute die boshafte, fiese Aura, die ihn seit Marias Eintreten umgeben hatte. Ein Lachen und man sah sich geneigt, ihm alle vorigen Gemeinheiten zu vergeben. Das war einer seiner Trümpfe.
Maria schnob durch die Nase. Nicht mit ihr! „Kann ich gehen?“ Sie hatte so viel Gift in die Stimme gelegt, wie sie konnte.
„Hast was zu arbeiten?“ Erneut fasste er die Akte ins Auge. „Der Fall ist ja schließlich abgeschlossen. Wenn man es denn Fall nennen mag … War ja mehr als offensichtlich.“
Wenn du meinst, mich damit zu treffen, hast du dich geschnitten! Dass es der Großvater gewesen war, der seinen Schwiegersohn umgebracht hatte, war gar nicht so einfach herauszufinden gewesen.
Maria wusste das. Und Karl wusste es auch. Nur hatte er eben wieder schnell in den Arschloch-Modus gewechselt.
„Wenn du es sagst, muss es ja stimmen“, sagte sie, zufrieden, dass ihr der Kommentar so lässig über die Lippen kam. „Und nein, ich habe nichts mehr zu arbeiten, was mich allerdings nicht weiter stört, da ich ja wie erwähnt ‘nen saftigen Hangover habe. Entweder, ich schlafe ordentlich aus, oder ich kontere mit einem weiteren Vollpreller. Habe ich noch nicht ganz zu Ende gedacht. Bis Montag“, flötete sie, machte kehrt und ging zur Tür. Alter Schwede, das war mal ein Schlussakkord! Sie war stolz auf sich.
Im selben Moment kam Benny ins Zimmer gestürzt. Abrupt blieb sie stehen und starrte auf das einem Maleranzug ähnelnde Ganzkörperkondom der Spurensicherung, dessen Reißverschluss er gerade mit einem Ratschen zuzog. Obwohl er sich um die IT kümmerte, ließ er es sich nicht nehmen, das Team der Spurensicherung zu begleiten, sobald es einen spektakulären Mord gab. Dafür hatte er eigens verschiedene Lehrgänge absolviert. „Chef!“, rief er. „Wir haben eine Leiche in der Herbststraße!“
O Gott, nein … bitte nicht!
Maria hörte, wie die Rollen von Karls Drehstuhl über den Boden rumpelten. Sie drehte sich herum und schloss die Kinnlade, die ihr bei Bennys Anblick heruntergeklappt war.
Kein Bett!
Kein Auspennen!
Ich werde sterben, und ich werde beim Kalkrieder liegen, wie ich es mir ausgemalt habe …
Karl stand bereits, klickte nur kurz vornübergebeugt auf der Maus herum, schaltete danach den Monitor aus, schüttelte sich geschwind in seine Jacke und sagte zu Benny: „Dampf mit deiner Truppe ab! Wir kommen gleich.“
„Geht klar!“
Karl wollte gerade an Maria vorbeidüsen, da hielt er inne, kehrte zum Schreibtisch zurück und griff sich den Schlüssel, der neben dem Mauspad lag.
Grinsend wedelte er damit herum. „Heute fahre ich, Don Promillo!“
***
Der aufheulende Motor erinnerte Maria an das Geräusch eines deutschen Sturzkampfbombers aus dem Zweiten Weltkrieg. Am Mittwochabend hatte sie einen Dokumentarfilm über den Angriff der Deutschen auf die Sowjetunion gesehen. Da hatte es ganz ähnlich geklungen, sobald sich die deutschen StuKas auf russische Stellungen stürzten, um diese zu zerbomben.
Es presste sie in den Sitz, die Reifen quietschen, dann schoss Karl auf die Kreuzung zu. Die Ampel schaltete auf Rot. Er trat auf die Bremse. Der schwarze Ford Mustang kam zum Stillstand, Leerlauf, der Motor gluckerte erwartungsvoll. Karl hatte sich die Höllenmaschine Anfang des Jahres für unerhört viel Geld gekauft. Seitdem mied Maria es, bei ihm mitzufahren. Sie war sicher, nicht nur der Polizeipräsident protegierte Karl, sondern auch der Chef der Verkehrspolizei. Anders war nämlich nicht zu erklären, wieso ihm bislang niemand den Lappen gezwickt hatte. Grundsätzlich fuhr er innerorts zwanzig Sachen zu schnell, auf Autobahnen zählten gar keine Tempolimits.
Nachdem sie eingestiegen war, hatte Karl ihr eine Kotztüte gereicht, die nun auf ihrem Schoß lag. Aber den Gefallen würde sie ihm nicht tun, egal, welche Kapriolen er schlug.
Karl ließ das Seitenfenster herunter, griff sich das magnetische Blaulicht und befestigte es mit einem hörbaren Klonk auf dem Dach. Die blauen Reflexe des Lichtkegels huschten über die nasse Straße und brachen sich auf der Rückscheibe des vor ihnen stehenden Autos.
Das Blaulicht war überhaupt nicht nötig, da die Leiche, wie der Name schon sagte, bereits tot war, und es egal war, ob sie zwei Minuten früher oder später am Fundort eintrafen. Karl sah das natürlich anders.
Die Ampel schaltete auf Grün. Sofort drückte er das Gas durch. Der Wagen schnellte nach vorne, ein ruckartiges Lenken nach rechts auf die zweite Fahrspur. Schon waren sie an dem Störenfried vorbei, der aus unerfindlichen Gründen ganz normal beschleunigte. Bei der nächsten roten Ampel wiederholte sich das Spiel und bei der danach ebenfalls.
Maria krallte die Finger in den Ledersitz, schluckte mehrmals, da ihr der Magensaft bereits in der Speiseröhre stand.
Plötzlich wurde der Wagen langsamer, die Tachonadel senkte sich auf fünfzig Stundenkilometer.
Maria sah zu ihm. Er hatte die Kiefer zusammengepresst, schien zu überlegen. Mit einem Seufzen tippte er auf den im Armaturenbrett eingelassenen Touchscreen. Einen Moment später tutete ein Freizeichen aus der Freisprechanlage.
„Was?“
Leonie. Karls Tochter. Sechzehn, schwarze Kleidung, schwarz gefärbte Haare, Hormonschwankungen. Maria hatte Leonie erst zweimal gesehen, wusste jedoch ungefähr, in welcher Lebensphase sie sich befand.
„Servus“, sagte Karl. „Du, wir haben da gerade einen Mordfall reinbekommen. Tut mir echt leid.“
„Klar, natürlich“, sagte sie mit Säure in der Stimme. „Komm bloß nicht nach Hause.“
„Ich bring euch beiden ‘ne Piz-“
Ein Knacken in der Leitung, dann Tut, tut, tut …
Verärgert sah Karl auf das Display.
Verbindung beendet.
Er drückte aufs Gaspedal. Der Mustang beschleunigte auf achtzig Sachen.
Maria stöhnte.
Es begann zu regnen, dicke Tropfen aus einem dunkelgrauen Novemberhimmel, die auf der Windschutzscheibe zerplatzten. Das Wuppen der Scheibenwischer hatte ungefähr den Takt des Seegangs, der in Marias Magen herrschte. Sie schluckte, griff zur Kotztüte und flehte, dass diese Marter bald vorbei war.
Immerhin erreichten sie gerade die Donnersbergerbrücke. Von da war es nicht mehr weit bis zur Herbststraße. Feierabendverkehr, Regen, doch Karl spielte einfach Rambo: Lichthupe, dichtes Auffahren, er nötigte die Autos vor ihm, Platz zu machen, auf den Gehweg zu fahren, irgendetwas, damit John Wayne seinen Machodrang ausagieren konnte. Sie lockerte den Gurt, rutschte mit den Beinen nach vorne, sank im Sitz nach unten und verdeckte mit der rechten Hand ihr Gesicht.
„Ist dir was peinlich?“, fragte Karl gereizt, während er wild am Lenkrad herumruderte, um durch die enge Blechgasse zu manövrieren, die sich vor ihnen auftat.
„Ja, allerdings! Ist doch völlig unnötig! Die Leiche wird nicht davonlaufen!“
„In unserer Arbeit kommt es manchmal auf Minuten an, auf Sekunden!“
Zwecklos. Maria gab ein Schnauben von sich – und schwieg.
Das Ende der Donnersbergerbrücke. Die Ampel sprang auf Gelb. Karl gab Gas, rauschte um die Kurve, riss an der Handbremse. Der Mustang driftete über den nassen Asphalt in die Arnulfstraße. Freie Bahn.
Karl löste die Handbremse und trat das Gas durch.
Maria schaute ihn an.
Er grinste, freute sich wie ein Kind.
Ihr tat er einfach nur leid.
Das Pedal ins Bodenblech zu stanzen, schien die einzige Freude zu sein, die ihm geblieben war.
Endlich erreichten sie die Kreuzung zur Herbststraße. Seitz verringerte das Tempo, bog ein, kam zum Stehen.
Streifenwagen, Blaulicht, Absperrband, das, von Regentropfen getroffen, im Wind flatterte.
Maria öffnete die Tür, legte die Kotztüte auf den Sitz und atmete tief ein. Machte es nicht besser.
Im Gegenteil.
Nachdem sie ausgestiegen war, hatte sie das Gefühl, sich auf einem lecken Kahn in sturmumtoster See zu befinden.
Sie begann zu laufen.
ENDE DER LESEPROBE