Der Goldene Schwur

Einer junger Mann wird in das Abenteuer seines Lebens geschleudert - und muss obendrein eine Welt vor dem Untergang Retten

Eine Familie voller Geheimnisse. Eine Prophezeiung, die alles verändert. Ein junger Mann zwischen Licht und Dunkelheit.

Fabian Arendt ahnt nicht, dass die Antworten auf die Rätsel seiner Vergangenheit in einer anderen Welt liegen – einer Welt, in der die Geschöpfe des Lichts am Rande der Niederlage gegen die Armeen des Dunklen Fürsten stehen.

An der Seite des elfischen Schwertmeisters Eldryn, des streitlustigen Zwergs Brekash und eines Gnoms mit gewöhnungsbedürftiger Aussprache muss Fabian eine uralte Prophezeiung erfüllen: den Goldenen Greif erwecken, der sich in der letzten Schlacht dem Schwarzen Drachen entgegenstellt.
Doch nicht nur rätselhafte Orte wie die Hallen von Myrathis und uralte Prophezeiungen stellen Fabians Mut auf die Probe – in ihm selbst tobt eine wilde, ungezähmte Magie. Wenn er sie nicht beherrscht, könnte sie ihn und jene, die ihm vertrauen, ins Verderben stürzen …

Das richtige Buch für Liebhaber klassischer Fantasy mit unvorhersehbaren Wendungen und einer Prise Humor – epische Spannung aus der Feder von Peter Hohmann, dem Schöpfer der Feywind-Saga.

Eine Fantasy-Welt voller Abenteuer und Wunder ...

Der Anführer streckte seine Hand nach Fabians Gesicht aus. Den Impuls unterdrückend, zurückzuweichen, stand Fabian still, als der Mann das Haar an seinem linken Ohr zur Seite strich.

„Galema!“

Die Tonlage der Rufe schwankte zwischen Erstaunen und Unbehagen.

Was finden sie an meinen Ohren?

Neugierig nahm er die Ohren seiner Gegenüber in Augenschein. Die meisten trugen ihr Haar lang, sodass sie verborgen lagen. Bei einem Mann aber stachen sie durchs Blond.

Sie waren spitz.

Elfen!

Wie jene, die er aus Märchen und Filmen kannte. Geschah das alles wirklich? Oder hatten Alkohol und THC diesen optischen Cocktail zu verantworten? Oder drehte er schlicht und ergreifend durch? Vielleicht war der Elf mit den harten Augen in Wahrheit Professor Weiler. Und der Pfeil in der Schulter war eine Injektion gewesen, damit Fabian nicht spürte, wie er auf einer Liege mit Hand- und Fußmanschetten lag.

LESEPROBE

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„Was einst Licht ward, wurde Licht und Dunkel. Wer zusammenführt und wieder macht zu Licht, der wird des Greifen Reiter.“

 

„Dunkel opfert Licht, das selbst ward dunkel. Wer zusammenführt und wieder macht zu Nacht, der wird des Drachen Reiter.“

 

Prolog: Der Stein

  1. Januar 1944

Theresa rückte den Kragen von Konrads Uniform zurecht, strich über die Ostmedaille, wischte Schneeflocken weg und glättete Falten, die sich bei der nächsten Bewegung wieder bilden würden. Sanft ergriff er ihre Hand und führte sie zu seiner Wange. Er roch das Kräuteröl, mit dem sie sich nach dem Bad gegen die Kälte eingerieben hatte, spürte das Zittern ihrer Finger. „Ich will nicht gehen.“

„Ich weiß.“ Tränen schimmerten in ihren Augen, doch gelangten sie nicht auf ihre Wangen. Sie war tapfer. Wie immer. „Aber du musst.“

Der Krieg mit seinen Schrecken zerschlug die Erinnerungen an die zwei Wochen Heimaturlaub. Wie sehr hatte Konrad gehofft, diese Tage der Unbeschwertheit in seinem Herzen zu bewahren, damit er im Schützengraben nicht allen Mut und alle Hoffnung verlor. Seufzend drückte er Theresa an sich. Sie schmiegte sich in seine Umarmung, ihr Gesicht neben der Ostmedaille.

Ein Hustenanfall schüttelte sie. Sofort drehte sie sich weg, holte ein Taschentuch aus der Jackentasche und presste es vor ihren Mund. Das Husten wandelte sich in ein würgendes Keuchen, das ihren zerbrechlichen Körper beutelte. Als Konrad die Hand nach ihr ausstreckte, wich sie vor ihm zurück und steckte das Tuch weg.

Schärfer als beabsichtigt sagte er: „Du musst endlich zum Arzt.“

„Das werde ich.“ Das Lächeln, das ihre Worte begleitete, konnte er nicht deuten.

Er zwang sich, das Lächeln zu erwidern, und stierte auf die dunklen Ringe unter ihren Augen. Wie gern würde er sie einfach fortwischen.

„Du brauchst dich nicht zu sorgen.“

„Das tue ich aber! Du musst …“

In diesem Moment ertönte von der Hauptstraße ein Hupen über das Quietschen von Bremsen, und der Wind wehte Stimmen heran.

Konrad griff nach dem Beutel zu seinen Füßen. Obwohl er das Gewicht gewohnt war, kam er ihm schwerer vor als sonst. Tausend Worte schwirrten durch seinen Kopf, doch er konnte nur sagen: „Es ist so weit.“

Theresa nickte und bemühte sich, ihr Lächeln zu halten. Es wirkte wie festgefroren. „Hier.“ Aus ihrem Mantel förderte sie einen Kinderschuh sowie einen Brief zutage.

„Das … das ist einer von Maximilians Schuhen“, sagte er verwundert.

„Er ist herausgewachsen. Trag ihn bei dir, damit dir in schweren Stunden die Gewissheit Trost spendet, dass dein Sohn behütet aufwächst und dich bei deiner Rückkehr erwartet.“

Konrad wurde die Kehle eng, als er Schuh und Brief entgegennahm. „Ich …“

Theresa küsste ihn auf die Wange. „Den Brief lies erst im Zug. Das musst du mir versprechen.“

„Versprochen.“ Er drückte sie fest ans Herz. „Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“ Sie drückte ihn von sich. „Jetzt geh, Konrad. Geh …“

Ein zweites Mal erklang das Hupen.

„Ich komme zurück.“ Er schulterte seinen Beutel. „Das verspreche ich ebenfalls.“ Er nahm jede Einzelheit ihres Gesichts in sich auf – als könnte er die Wärme und den Glanz ihrer Augen wie ein Bild in sich bewahren, ein letztes Echo des Glücks inmitten der Kälte. Es zerriss ihm das Herz, als er sich auf den Weg zur Hauptstraße machte, seine Schritte schwer, fort von seiner Liebe hin zur Front und dem möglichen Tod. Immer wieder blickte er sich um, doch die dichten Flocken, die vom Himmel fielen, verwischten Theresas Konturen, verwandelten sie in einen Schemen. Einen Geist.

Ein Laster wartete in der Straße mit laufendem Motor, und ein Leutnant scheuchte Soldaten auf die mit einer Plane überspannte Ladefläche und hakte Namen auf einer Liste ab. Den Kopf gegen den Wind gesenkt, gesellte sich Konrad zu den Wartenden, bis er aufgerufen wurde.

Er wuchtete seinen Beutel hinauf und wollte hochklettern, als ihm jemand die Hand reichte. Der kleine Finger fehlte. Konrad blickte in Ottos grinsendes Gesicht.

„Lange nicht gesehen, mein Bester.“

„Nicht lange genug, wenn du mich fragst.“ Konrad ergriff die Hand und saß wenige Atemzüge später neben Otto. „Mir hätte es gereicht, deine Visage im Frühling wiederzusehen.“ Er senkte die Stimme zu einem Wispern: „Oder nach dem Krieg. Das würde schließlich bedeuten, dass wir ihn überlebt haben.“

Otto klopfte ihm auf die Schulter. „Das werden wir, mein Freund. Da bin ich mir sicher.“

Der Laster fuhr los, und die Männer auf der Ladefläche rückten näher zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen. Der Wind pfiff durch die Ritzen der Plane, und bald war das Schaukeln des Fahrzeugs das einzige Geräusch, abgesehen vom Brummen des Motors.

Konrad holte Maximilians kleinen Schuh aus der Manteltasche und betrachtete ihn gedankenverloren.

„Was hast du denn da?“, fragte Otto neugierig.

„Einen Schuh von meinem Sohn. Theresa hat ihn mir gegeben, damit ich nicht vergesse, wofür ich kämpfe.“

Otto nickte nachdenklich. „Ein schönes Andenken.“ Er griff in seine Jackentasche und zog einen Stein hervor. „Ich trage auch etwas bei mir, das mir Glück bringen soll.“

Das Kleinod war rund und halb so groß wie Ottos Handfläche. Es wirkte, als wäre ein Regenbogen darin gefangen. Trotz der Dunkelheit schimmerte er mal in sanftem Rot, dann Grün, schließlich Blau, je nachdem, aus welchem Winkel man ihn betrachtete. „Was ist das? Ein Edelstein?“

Otto lächelte geheimnisvoll. „Ein Familienerbstück und Glücksbringer.“

„Sieht wertvoll aus. Pass auf, dass er dir nicht abhandenkommt.“

„Keine Sorge, ich trage ihn immer bei mir.“ Otto steckte den Stein ein. „Vielleicht bringt er auch uns beiden Glück.“

Konrad zog eine Augenbraue hoch. „Uns beiden?“

„Ja, wieso nicht? Wenn wir zusammenhalten, wird uns nichts passieren.“

„Ich hoffe, du behältst recht.“

 

***

 

  1. Februar 1944

 

Konrad lugte über den Rand des Schützengrabens auf den verharschten Schnee. Schemenhafte Klumpen im Mondlicht bedeckten das Feld.

Reglos.

Tot.

Nach zweihundert Metern grenzte das offene Gelände an einen Wald. Drohend ragten die Bäume auf, ihre blattlosen Äste im Mondlicht wie skelettierte, seltsam verrenkte Finger. Vor zwei Stunden hatten die Russen vom Wald heraus angegriffen. Die deutschen MGs hatten sie niedergemäht. Beim nächsten Vorstoß würden sie nicht mehr blindlings anrennen.

Konrad war es einerlei, ob er heute oder morgen sterben würde. Wie oft er Theresas Brief während der letzten Tage hervorgeholt und durchgelesen hatte, konnte er nicht sagen. Auch jetzt hielt er ihn in Händen, obgleich es zu finster war, um ihn zu entziffern. Das musste er aber gar nicht – denn er kannte jedes Wort. Und er würde auch kein einziges Wort je vergessen. Denn was sich in die Seele gebrannt hatte, blieb dort für immer.

Schritte näherten sich zu seiner Rechten. Otto stapfte geduckt heran, sein Kopf blieb unter der Kante des mit Holzlatten verstärkten Schützengrabens. Der dicke Schal vor Mund und Nase verlieh seinen Worten einen dumpfen Klang: „Du gibst eine wunderbare Zielscheibe ab.“

Konrad zuckte die Schultern.

„Hier.“ Otto reichte ihm ein Stück Brot.

Konrad schüttelte den Kopf.

„Du musst essen. Sonst reicht es, wenn der Russe einen Schneeball nach dir wirft, um dich umzubringen.“ Als keine Antwort kam, legte er Konrad einen Arm um die Schultern. „Dein Kleiner wird dich brauchen, sobald du zurück in der Heimat bist. Soll ich ihm sagen, dass sein Vater vor Kummer lieber verhungert ist?“

„Du verstehst das nicht.“ Müdigkeit schwappte durch Konrads Körper. Seit drei Tagen hatte er kein Auge zugetan, was nur teilweise an den russischen Angriffen lag.

„Das stimmt. Ich habe keine Frau, und ich kann nur erahnen, wie schrecklich es ist, sie zu verlieren. Aber dass du deshalb selbst sterben willst, hätte Theresa nicht gewollt.“

Konrad blickte Otto an, überrascht von dessen Ernsthaftigkeit. Otto fummelte nervös in seiner Jackentasche, und Konrad bemerkte, dass er den Stein zwischen den Fingern drehte.

Otto bemerkte Konrads Blick. „Er gibt mir Hoffnung. Vielleicht kann er dir auch welche geben. Meine Großmutter hat immer gesagt, der Stein wählt seinen Träger aus. Vielleicht ist es Zeit, dass er zu jemand anderem geht.“

Konrad seufzte. „Ich weiß nicht, ob ein Stein mir Hoffnung geben kann.“

„Es ist mehr als nur ein Stein“, sagte Otto und hielt ihn Konrad hin. „Hier, nimm ihn mal in die Hand.“

Zögernd nahm Konrad den Stein entgegen. „Er ist warm. Trotz der Kälte.“

„Ja. Er hat etwas Besonderes an sich. Genau erklären kann ich es auch nicht.“

Im selben Moment, als Konrad den Stein zurückgab, erschütterte ein Knall die Luft. Er wagte einen Blick über den Schützengraben. Drei oder vier Kilometer entfernt blitzte es grell. Dann noch mal. Binnen kurzem verschmolzen die einzelnen Detonationen zu einem einzigen, langanhaltenden Donnerschlag, untermalt vom jaulenden Todeslied der Stalinorgel, deren Geschosse wie Sternschnuppen durch den Himmel zischten.

„Diesmal meint es der Ivan ernst.“ Otto drückte Konrad das Stück Brot in die Hand und prüfte sein Gewehr. „Wird nicht lange dauern, bis sie auch uns eindecken.“

Konrad steckte den Brief weg und tastete nach Maximilians Schuh, den er in der Innentasche seines Mantels trug. Anschließend kaute er mechanisch auf dem Brot herum und verfolgte mit grotesker Faszination den Todesregen mit, der sich weiterhin über ihren weit entfernten Kameraden entlud.

Irgendwann lösten Gewehrschüsse und Maschinengewehrgarben die Artillerieeinschläge ab.

„Scheiße!“ Otto hieb mit der behandschuhten Faust gegen die gefrorene Wand des Schützengrabens.

„Wir können nichts machen“, murmelte Konrad. „Außer im Wald bleiben und hoffen, dass wir diese Scheiße nicht abkriegen.“

Nach einer halben Stunde verebbte das Krachen, ähnlich einem Gewitter, das seine Kraft verlor.

Otto gab Konrad einen Knuff mit dem Ellbogen, ohne seinen Blick vom zweihundert Meter entfernten Waldstück abzuwenden. „Was meinst du, wie lange wird es dauern, bis …“

Ein Pfeifen.

Beide warfen sich zu Boden.

Dreißig Meter zu ihrer Rechten hörte der Schützengraben in einem gleißenden Lichtblitz auf, zu existieren. Die Druckwelle fegte über Konrad hinweg. Dreck und Holztrümmer pfiffen durch die Luft. Der Knall war so laut, dass seine Ohren klingelten.

Er stemmte sich auf die Beine, Dreck rieselte seinen Wintermantel hinab, und wie von fern bemerkte er, dass irgendetwas seine Wange aufgeritzt hatte. Auch Otto rappelte sich benommen auf. Weitere Detonationen, deren Erschütterungen sie fast wieder von den Beinen warfen. Ein Unwetter aus gefrorenen Erdklumpen prasselte auf sie nieder.

Otto schwankte, sein Blick ging ins Leere – und er stand vollkommen aufrecht. Konrad stürzte sich auf ihn und riss ihn zu Boden. Im Fallen sah er die Kugeleinschläge im Dreck, wo in verlängerter Linie einen Herzschlag zuvor Ottos Kopf gewesen war.

Ottos Blick klärte sich. „Danke …“ Ächzend griff er nach seinem K98k. „Und jetzt lehren wir diese Drecksäcke Mores!“

Beide spähten über den Rand des Schützengrabens.

Zwischen den Bäumen huschten Schatten. Viele Schatten. Erneut gingen Mörsergranaten nieder.

„Sieht übel aus.“ Otto griff in seine Jackentasche und umklammerte den Stein. Sein Gesicht war angespannt, als konzentriere er sich auf etwas.

„Was tust du da?“

„Vielleicht können wir es schaffen“, murmelte Otto.

„Du glaubst wirklich, dein Stein wird uns helfen?“ Konrad spähte erneut über den Rand. Die Russen rückten vor, und ihre eigenen Reihen lichteten sich. Einige der Kameraden flohen bereits in Panik.

„Wir müssen auch weg!“, sagte Otto. „Bleib einfach dicht bei mir!“

Konrad zögerte einen Moment, dann nickte er.

Zusammen kletterten sie aus dem Schützengraben. Konrad half Otto über die Kante. Nun liefen sie, die vereinzelten Bäume als Schutz nutzend, so schnell sie konnten durch Strauch und Gestrüpp. Schüsse peitschten an ihnen vorbei oder fuhren mit dumpfen Schlägen in die Bäume.

Bald machte der schwere Wintermantel jeden Schritt zur Qual. Konrads Beine brannten, als liefe nicht Blut, sondern flüssiges Feuer durch seine Muskeln, und sein rechter Arm schmerzte vom Halten des Gewehrs so sehr, dass er es fallen ließ. Otto hatte seines schon vorher weggeworfen. Schweiß bedeckte sein fahles Gesicht, die Wangen waren eingesunken.

„Kannst du noch?“

„Halt … die Klappe und … lauf!“

Zum Glück erreichten sie bald ein Waldgebiet, in dem sie besser vorankamen, da nur flacher Niederwuchs den Boden bedeckte.

Otto strauchelte und fing sich an einem Baumstamm ab. Er stand gekrümmt, schwankte, lief nach einigen schweren Atemzügen jedoch weiter.

Schreie und Schüsse hallten durch den Wald, der die Geräusche verzerrte, sodass man nicht wusste, wie weit entfernt oder aus welcher Richtung die Laute kamen.

Obwohl das Hämmern der Anstrengung in Konrads Schädel jeden Gedanken in Stücke schlug, wusste er instinktiv: Es war vorbei. Sollten die Russen sie nicht töten, würden das die Kälte oder der Hunger erledigen.

Irgendwann übertönte das Knirschen ihrer Schritte die Geräusche des Krieges. Sie liefen langsamer, hielten aber nicht an.

Konrad schöpfte Atem in seine Lungen. „Fürs Erste … sind wir aus dem Schneider, denke ich.“

Otto sackte gegen Konrad, fiel zu Boden und blieb auf dem Rücken liegen.

„Otto!“ Konrad kniete sich neben seinen Freund.

Schatten lagen hinter Ottos Augen. Er hustete. Sein Schal war dunkel. Vorsichtig schob Konrad ihn zurück und sog die Luft ein: Lippen und Kinn waren blutverschmiert. Wieder hustete Otto. Ein Blutfaden rann aus seinem Mundwinkel und malte eine dunkle Linie auf seinen Hals.

„Scheiße!“ Konrad knöpfte Ottos Wintermantel auf. Blut tränkte die rechte Seite seiner Uniform. Eine Handbreit unterhalb der rechten Brust fand Konrad das Loch.

Lungendurchschuss.

Eine Welle aus Verzweiflung und Hilflosigkeit überrollte ihn. „Nein, Otto, nein!“ Seine Stimme brach, und Tränen sammelten sich in seinen Augen, gefroren fast auf den Wimpern.

Konrad ergriff Ottos Hand, klammerte sich daran wie an einen letzten Anker. Otto erwiderte den Druck, wenn auch schwach.

„So ein scheiß … Pech.“ Ottos Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, jeder Atemzug ein Kampf.

„Vielleicht … vielleicht finden uns unsere Leute“, sagte Konrad, bevor die Realität ihm die Kehle zuschnürte.

„Klar. Vielleicht kommt auch der Weihnachtsmann und fragt uns, ob er uns auf seinem Schlitten mitnehmen soll.“ Ein schwaches Lächeln huschte über Ottos Gesicht, eine Spur seines alten Humors.

Konrad schluckte. „Ich kann nichts machen, Otto.“ Die Gewissheit, seinen Freund nicht retten zu können, zerriss ihn innerlich.

„Doch, kannst du. Nimm den Stein.“ Otto hob die andere Hand und wartete, bis Konrad die seine geöffnet hatte. „Zieh den Handschuh aus. Der Stein muss … die Haut berühren.“

Zögerlich tat Konrad, worum Otto ihn bat. „Was bringt das jetzt noch?“

Unerwarteterweise bäumte Otto sich auf und packte Konrad am Kragen. „Du machst das, hast du gehört?“

„Ja, schon gut …“

„Du darfst ihn nicht wegwerfen.“ Ottos Augen brannten vor Entschlossenheit, ein letzter Funke Leben. „Widerstehe dem Schlaf und …“ Eine hechelnde Atmung setzte ein. „Und halte den Stein in der Hand. Hör nicht auf, zu laufen. Lauf. Wenn du denkst, du kannst nicht mehr, dann lauf … lauf weiter. Lauf für deinen Sohn …“

„Ich kann dich nicht allein lassen.“

Ottos Griff lockerte sich, seine Augen begannen zu flackern. „Du musst … Es ist zu spät für mich. Aber nicht für dich. Versprich mir … dass du es schaffst.“

„Ich verspreche es.“

Ein schwaches Lächeln umspielte Ottos Lippen. „Guter Mann …“ Seine Hand erschlaffte, glitt von Konrads Kragen herab. Seine Augen verloren den Fokus, der Atem wurde flacher, bis er schließlich ganz verebbte.

Stumm saß Konrad neben Otto, hielt seine leblose Hand. Sein bester Freund, sein treuer Weggefährte, war fort. Die Welt um ihn herum verschwamm, wurde bedeutungslos.

Für einen Moment wollte er liegen bleiben, sich der Kälte hingeben und alles enden lassen. Ottos letzte Worte hallten in seinem Kopf wider.

Lauf für deinen Sohn …

Konrad richtete sich auf, den Stein in der Hand, dessen Wärme sich bis in sein kaltes Herz ausbreitete. Er blickte ein letztes Mal auf Ottos stilles Gesicht, und mit jedem Schritt fort von der Front, fort vom Tod, wuchs der Gedanke: Ich laufe für meinen Sohn. Ich laufe, bis nichts mehr übrig ist.

 

Kapitel 1: Narben der Vergangenheit

Im Februar 2005

 

Etwas musste sich ändern.

Fabian saß vor dem Bildschirm und betrachtete das aus Symbolkolonnen bestehende Grundgerüst des Computerspiels, an dem er tüftelte. Seit er den Schritt in die märchenhafte und doch strikt reglementierte und kontrollierbare Sphäre des Programmierens gemacht hatte, galt sein Traum der Fertigstellung seines Projekts.

Eine Welt, die seinen Regeln gehorchte.

Der Baumeister hatte alle Fäden in der Hand, lenkte den Fortgang des Abenteuers. Keine Geheimnisse. Keine Rätsel. Auftretende Probleme konnten analysiert und beseitigt werden. Ein Kosmos, in dem es keine Abweichungen gab und der, egal, wie komplex er war, immer erklärt werden konnte.

Und er wollte es allein schaffen. Ohne großes Entwicklerteam. Ohne große Geldgeber im Hintergrund (die er sowieso erst einmal finden müsste). Eine Aufbau-Simulation im Stil von Sim City, aber kleiner und in einer mittelalterlichen Welt.

Frustriert stieß Fabian sich vom Computertisch ab, der Drehstuhl rollte über den alten Teppich. Baumeister hin, Baumeister her – wenn man sich nicht konzentrierte, half alles Fachwissen nichts. Er steckte fest. Leider war die Vollendung des Computerspiels so fern wie der Frühling, egal, ob er mit der Nase fast den Monitor berührte oder ihn, wie jetzt, mit Abstand betrachtete.

Unweigerlich zog das Holzregal über dem Computertisch Fabians Blick. Zwischen den Büchern über Informatik stand ein alter Kinderschuh, klein, aus dickem Stoff, mit schwarzen Schnürsenkeln. Darin ruhte der Stein. Der Stein, der ein Geheimnis sein sollte, aber keines war. Wer hatte darüber mit anderen gesprochen? Seine Mutter? Sein Bruder Markus? Sein Vater, bevor er in die Nervenheilanstalt eingewiesen worden war? Das Schicksal seines Vaters zusammen mit dem Stein nährte das Gerücht, dass mit den Arendts etwas nicht stimmte. Dass sie vielleicht sogar verflucht waren? Während die meisten Menschen die Arendts seitdem mieden, weckte der Stein Begehrlichkeiten, weil manche glaubten, er wäre kostbar. Zweimal war bei ihnen im Laufe der Jahre sogar eingebrochen worden.

Ja, dieser vermaledeite Stein …

Seit jeher wollte Fabian herausfinden, was es wirklich damit auf sich hatte. Und was genau seinen Vater von einem normalen Mann in ein psychisches Wrack verwandelt hatte.

Fabian schaute aus dem Dachfenster seines Zimmers über die schneeschweren Zweige der Tannen, die den Garten des Hauses wie Wächter begrenzten. Dahinter versanken Wiesen und Felder in einem von Schneeflocken durchwirbelten Grau. Zehn Kilometer entfernt sausten die Schneeflocken bestimmt auch um die wuchtige Fassade der umgebauten Kaserne aus dem ersten Weltkrieg, die nun eine Nervenheilanstalt beherbergte.

Fabian kannte die weiß gefliesten Gänge und schweren Türen mit den Schlitzen, durch die die Pfleger das Essen schoben. Der Ort war ein Massengrab, in dem Hoffnungen, Träume und klare Verstände ruhten.

Manchmal gelang es den Ärzten, diese auszugraben und wieder in den Kopf des einen oder anderen Insassen zu schaufeln. Wiedererweckte man Tote, wurden sie zu Zombies. Leider verhielt es sich mit Gedanken ähnlich …

„Mittagessen“, wehte die Stimme seiner Mutter zu ihm herauf.

„Komme gleich!“ Fabian stand auf und stieß sich den Kopf an der mit Holz vertäfelten Dachschräge, die fast bis in die Mitte des Zimmers reichte. Er ignorierte den Schmerz und atmete durch.

Etwas musste sich ändern.

Fabian griff in den Schuh. Kalt und leblos wirkte der Stein, trotz der Regenbogenfarben, wenn man ihn gegen das Licht hielt und drehte. Er steckte ihn in die Hosentasche, ging nach unten in die Küche, setzte sich gegenüber seiner Mutter an den Tisch und tauchte den Löffel in den Eintopf.

Ein Windstoß drückte gegen das Küchenfenster. Durch den undichten Rahmen schaffte es der kalte Hauch bis zu Fabians Knöcheln. Seine Mutter stierte nach unten, auf den Eintopf, tauchte den Löffel ein, langsam, und ebenso langsam öffnete sie den Mund und schluckte.

Fabian führte den Löffel zum Mund, verharrte und setzte ihn ab. „Ich muss mit dir reden.“

Sie nahm noch einen Löffel, als könnte sie den Bewegungsablauf nicht unterbrechen. Dann hob sie den Kopf. Glanzlose Augen blickten ihn aus einem Gesicht an, in das Verzweiflung und Kummer frühzeitige Furchen gegraben hatten.

„Ich kann so nicht mehr weitermachen. Das mit Papa … und alles andere. Nichts davon ergibt einen Sinn. Ich muss wissen, was wirklich passiert ist.“

Ihre Stimme zitterte, als sie sagte: „Es gibt nichts, was erklärt werden müsste.“

Fabian hatte sich vorgenommen, ruhig zu bleiben, doch plötzliche Wut machte ihm den Hals eng. Ruckartig riss er den rechten Ärmel seines Pullovers zurück und spannte die Muskeln. Dann fuhr er mit der linken Hand die Narbe nach, die sich sichelgleich von der Schulter bis zum Ellenbogen zog. „Und was ist damit? Das war kein Stein, auf den ich gestürzt bin! Das war“ – er knallte die Faust auf den Tisch, dass der Eintopf in der Schüssel hüpfte – „eine Kralle! Eine verdammte Kralle! Aber weder von einem Wolf, noch einem Bären oder sonst einem Tier, das ich kenne!“

Seine Mutter zuckte zusammen. „Die Leute im Dorf reden schon genug über uns. Sie denken, wir sind verrückt. Willst du ihnen noch mehr Anlass geben?“ Die Tränen, die aus den Augen seiner Mutter rannen, dämpften Fabians Wut. Mit einem Schlag fühlte er sich schäbig. Aber er musste dieses Gefühl beiseiteschieben, sonst würde er irgendwann so enden wie sie – als von Schicksalsschlägen ausgehöhlte Hülle.

„Du warst in Behandlung, Fabian.“ Seine Mutter schluchzte. „Es war ein Sturz. Du hast es selbst zugegeben.“

„Damit die blöden Fragen aufhören!“ Er atmete tief ein. „Geglaubt habe ich es nie. Es. War. Kein. Sturz.“ Jedes Wort war ein Schlag, mit dem er einen Pflock ins Herz seiner Mutter trieb.

„Warum tust du mir das an?“ Sie begrub das Gesicht in den Händen.

Fabian biss sich auf die Unterlippe. Es war seine Mutter, die alles für ihn tat, die nie müde wurde, ihn zu unterstützen, die …

Nein.

Er war an einem Punkt angelangt, an dem er seine Rücksicht über Bord werfen musste. Er griff in die Hosentasche und legte den Stein in die Tischmitte. Eine Welle aus Regenbogenfarben huschte über die glatte Oberfläche.

Als seine Mutter aufblickte, trat ein Ausdruck in ihre Augen, als stünde sie dem Leibhaftigen gegenüber. „Was soll das? Tu ihn weg!“

Fabian steckte ihn zurück in seine Hosentasche. „Papa hielt ihn in der Hand, als er wieder auftauchte. Dieser Stein ist der einzige Anhaltspunkt.“

„Was für ein Anhaltspunkt?“ So ungestüm stand seine Mutter auf, dass ihr Stuhl nach hinten kippte. „Dein Vater ist wahnsinnig geworden! Er hockt in einer Zelle und ist nicht bei Verstand!“

„Ich werde herausfinden, was damals geschah. Es hat etwas mit dem Stein und meiner Narbe zu tun. Das spüre ich.“

Gerade noch von Wut erfüllt, krümmte sich seine Mutter und presste ihre Hand auf die Brust.

„Hör auf, mir Angst einzujagen!“

Schwer atmend schleppte sie sich zur Küchenzeile und öffnete eine Schublade. Das Klackern einer Tablettendose, dann führte sie die Hand zum Mund und warf den Kopf in den Nacken. Langsam drehte sie sich herum. „Nicht auch noch du, Fabian. Bitte …“

Er ballte unter dem Tisch die Fäuste. Immer diese Theatralik! Ein Gespräch oder ein Thema, das ihr nicht passte – schon zog sie die Karte mit ihrer Herzschwäche. Nachdem er durchgeatmet hatte, ging er zu ihr und umarmte sie. Die spitzen Knochen der Schlüsselbeine drückten gegen seine Brust.

 

***

 

Nachdem er sich umgezogen hatte und wieder nach unten kam, hörte er den Fernseher aus dem Wohnzimmer. Er ging an der Tür vorbei. Seine Mutter starrte auf irgendeine Talkshow. Fabian verließ das Haus, der Wind blies ihm Schnee ins Gesicht.

Den Ärmel seiner Lederjacke über die rechte Hand gezogen, wischte er den feuchten Schnee von den Scheiben seines altgedienten Golfs und stieg ein. Er strich Schneeflocken aus seinem Haar und konnte nicht umhin, einen Blick in den Rückspiegel zu werfen. Vor ein paar Tagen hatte er tatsächlich gemeint, ein paar graue Haare hätten sich in das Schwarz geschlichen. Und das mit einundzwanzig! Die blauen Augen seines Spiegelbildes ließen ihn erschauern. Die Geschehnisse seiner Kindheit hatten sich dort abgelagert. Mit einem unwilligen Schnauben wandte er den Blick ab und startete den Wagen. Nach einem kurzen Stottern ging er aus. Verdammte Kälte! Die nächste Drehung des Zündschlüssels beantwortete der Motor mit einem gepeinigten Jaulen. Fabian pumpte das Pedal, bis der Auspuff dichten, weißen Rauch aushustete, legte den Gang ein und rollte zur Ausfahrt.

Keinen Moment zu früh.

Der BMW seines Bruders Markus bog um die Ecke und kam mit einer satten Bremsung vor dem Haus zum Stillstand, bevor Markus und seine Freundin Janine ausstiegen.

Die Fahrt zum Dorf war beschwerlich. So gut wie nie fühlte sich der Winterdienst bemüßigt, die Straßen zu den umliegenden, abseits gelegenen Häusern zu räumen. Obwohl Fabian langsam fuhr, driftete sein Auto einmal bedrohlich in Richtung Straßengraben.

Als er das Dorf erreichte, atmete er auf. Zwar war hier ebenfalls noch nicht geräumt worden, aber die Straße war breiter. In dicke Jacken und Schals gehüllte Gestalten stapften durch den Schnee, der an manchen Stellen bis zu den Unterschenkeln reichte. In den wenigen Geschäften brannte zwar Licht, doch es waren nur kleine Punkte von Helligkeit im winterlichen Dämmer.

Nach dem Dorf nahm er die Umgehungsstraße, die um den Dorninger Forst führte, der sich vom Dorf bis zur nächsten Siedlung und dem Sanatorium erstreckte. Den direkten Weg durch das Tannicht vermied er, da dieser schmal und unbefestigt war. Bei diesem Schneefall würde er vielleicht mit seinem Leben, aber bestimmt ohne Auto herauskommen.

Fabian stellte das Radio ab, das seit Beginn der Fahrt leise gedudelt hatte. Selbst wenn eine Autobahn durch den Wald führte und die Sonne schiene, würde er außenherum fahren.

Denn es war nicht ein Wald – es war der Wald.

Er rechnete nach. „Vor elf Jahren.“ Fremd kam ihm seine Stimme mit einem Mal vor, als widerstrebte es seinen Stimmbändern, zu vibrieren, um etwas auszudrücken, das mit jener Nacht in Verbindung stand.

Die Empfindungen von damals, die sonst nur in seinen Albträumen genug Kraft besaßen, um sich in die Realität zu schleichen, griffen nach ihm.

Er hörte sie wieder, ihre tiefen Rufe, ihren Atem, als sie näherkamen, witternd, schnaubend, wilden Tieren gleich, auf Beute aus. Dazu der trommelnde Regen, überstimmt vom Brechen der Zweige, als sie losrannten, ihre massigen Körper vom Nebel verschleiert. Ein Blitz zuckte über den Himmel. Im hellen Leuchten zeichneten sich Hörner ab, die aus kantigen Schädeln wuchsen.

Plötzlich verstellte jemand den Kreaturen den Weg. Dieser Jemand war kleiner, doch unerschrocken. Auf seinem Umhang glomm im nächsten Blitz das Abbild eines goldenen Baumes, über dem ein ebenfalls goldener, großer Adler mit ausgebreiteten Schwingen thronte. Dann Geräusche wie von einem Kampf.

Schmerz, als eine Klaue aus dem Nebel schoss und Fabian den Oberarm aufschlitzte. Er stürzte eine Böschung hinab. Die Flucht nach Hause eine dunkle Wolke aus Fassungslosigkeit und Schock.

Gleißendes Licht sengte in Fabians Augen und verbrannte die Bilder zu Asche. Eine Hupe dröhnte wie eine Höllentrompete.

Er riss das Steuer nach rechts, konnte die Kratzer im Lack der LKW-Stoßstange sehen, die ihn um Haaresbreite verfehlte. Sein Golf schlingerte auf den Straßengraben zu. Instinktiv riss Fabian wieder am Lenkrad. Der Wagen drehte sich und tanzte zwei Pirouetten mit den Schneeflocken.

Als er zum Stillstand kam, stand er wie durch ein Wunder immer noch auf der Straße. Der Motor war ausgegangen, die Scheibenwischer wuppten hin und her und verwischten den Schnee, der nun langsam und ruhig auf die Windschutzscheibe fiel. Mit schreckenssteifen Fingern startete Fabian den Golf und lenkte ihn zurück in die Fahrspur.

 

***

 

Nachdem Fabian ausgestiegen war, musste er sich gegen den Wagen lehnen, da ihm der Schreck weiterhin in den Beinen saß.

Beinahe hätte mich der Wald doch umgebracht – nur eben elf Jahre später …

Er stieß sich ab und eilte auf den Haupteingang zu. Der Wind blies ihm ins Gesicht, und er war fast blind, als er endlich die schwere Holztür aufdrückte und den Winter draußen ließ. Sofort roch er die ätzenden Reagenzien, die in jeder Einrichtung in der Luft hingen, die sich mit dem Heilen von Krankheiten beschäftigte.

Jenseits der leeren Stühle auf der rechten Seite der Eingangshalle hockte eine kräftige Frau mit Bürstenschnitt am Empfang und blätterte in einer Zeitschrift.

„Entschuldigen Sie“, sagte Fabian. „Ich würde gern meinen Vater besuchen.“

Sie blickte ihn irritiert an, als wäre es eine Unverfrorenheit, sie bei der Lektüre zu stören. „Wie heißt Ihr Vater?“

„Maximilian Arendt.“

„Und Sie sind?“

„Fabian Arendt.“

Gelangweilt wandte sie sich einer Riege Hängeordner zu und fischte eine Akte hervor, die sie auf den Tisch legte.

Jaja, das digitale Zeitalter braucht eben ein bisschen …

„Sie müssen sich gedulden, weil ich erst Professor Weiler fragen muss, ob ein Besuch überhaupt möglich ist.“

„Warum?“ Fabian deutete auf die leeren Stühle. „Hier ist niemand sonst. Ich habe meinen Vater lange nicht mehr gesehen. Wo liegt das Problem?“

„So läuft das hier nun mal“, sagte die Frau patzig, und er schwor Stein und Bein, dass sich seine Wartezeit soeben verdoppelt hatte. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, tastete sie eine Nummer in das schwarze Mobiltelefon, das neben einem Stapel Magazinen lag.

Verärgert setzte Fabian sich in einen der Plastikstühle. Obwohl er angestrengt lauschte, konnte er nicht hören, was geredet wurde. Nach dem Gespräch griff die Frau nach ihrer Zeitschrift und schlug sie – betont demonstrativ – auf. Fabian kreuzte die Arme vor der Brust. Das passte mal wieder! Als Sahnehäubchen hatte Professor Weiler Dienst, jener Psychiater, der Fabian vor elf Jahren hatte einreden wollen, er wäre nur gestürzt …

Ab und an starrte Fabian zur Frau, den Wunsch hegend, das Magazin würde Feuer fangen.

Nach einer Stunde klingelte das Telefon. Die Frau hob ab, und ein Ausdruck von Enttäuschung huschte über ihre Züge. Ausdruckslos schaute sie zu Fabian. „Sie können den Professor sehen. Linker Gang, dritte Tür auf der rechten Seite.“

„Vielen herzlichen Dank“, sagte Fabian, seine Stimme triefend vor Spott, und ging zu besagter Tür.

Ein „Herein“ erklang auf sein Klopfen.

Er öffnete die Tür und betrat das Zimmer. Ein langes Holzregal beanspruchte die gesamte linke Wand, und Fabian beschlich das Gefühl, das dort haargenau dieselben Bücher wie damals vor sich hin staubten. Rechts an der Wand hingen einige Schaubilder, die das menschliche Gehirn zeigten: die Hemisphären mit ihren Bereichen, der Corpus Callosum, die Amygdala und so weiter. Ein Experte war Fabian auf dem Gebiet nicht, aber wegen seines Vaters und auch seiner eigenen Vergangenheit hatte er sich damit befasst. Neben den Schaubildern befand sich eine zweite Tür. Der Professor saß, die Hände verschränkt, hinter einem wuchtigen Schreibtisch aus Eiche. Rote Triefaugen blickten Fabian entgegen.

„Schön, dich wiederzusehen, Fabian.“

„Hallo, Herr Professor.“

„Auch wenn du zu einem stattlichen jungen Mann herangewachsen bist – deine Manieren haben sich nicht verbessert. Frau Birnheimer hat mich darüber informiert, dass du ungehobelt zu ihr warst.“ Ein Zucken lief durch die herunterhängenden Wangen des Professors. „Betrachte die Wartezeit als pädagogische Maßnahme, in der du über dein unbotmäßiges Verhalten nachdenken konntest.“

Fabian schluckte die beißende Antwort, die ihm auf der Zunge lag, hinunter, und zwang sich zu einem Lächeln. „Das habe ich. Es tut mir auch wirklich leid.“ Am liebsten hätte er sich auf der Stelle die Zähne ausgeschlagen.

„Nun gut.“ Weiler nahm ein Blatt zu Hand und überflog die Zeilen. „Du warst lange nicht mehr hier. Der Zustand deines Vaters ist unverändert. Du bist dir bewusst, dass er dich wahrscheinlich nicht einmal erkennen wird?“

Fabian schluckte. „Ja. Aber trotzdem …“

Weiler zuckte die Schultern. „Meinetwegen. Vielleicht hast du ja Glück. Manchmal scheint es, als hätte dein Vater durchaus klare Momente. Leider erzählt er dann Märchengeschichten über Steine, Fabelwesen und Flüche. Du weißt ja, wie die Leute im Dorf über eure Familie reden.“

Fabian presste die Lippen zusammen. Der Spruch hatte sein müssen, oder?  „Kann ich meinen Vater jetzt sehen?“

Weiler senkte den Kopf und sah ihn an, als trüge er eine Brille, über deren Rand er linsen musste. „Ja. Allerdings möchte ich auf keinen Fall, dass du irgendetwas sagst oder tust, das deinen Vater aufregt.“

„Verstehe.“ Fabian stand auf und folgte dem Professor, der die zweite Tür öffnete, hinter der sich ein langer, fensterloser Gang erstreckte. Eine der Neonröhren an der Decke zuckte wie ein Herz mit Vorhofflimmern. Weiler schloss die Stahltür am Ende des Ganges auf und entließ Fabian in einen breiten Korridor. Auf der einen Seite vergitterte Fenster, auf der anderen Tür an Tür mit Sehschlitzen und Klappen. Eine Schwester ging mit knappem Gruß und quietschenden Gesundheitssandalen an ihnen vorbei, in der einen Hand eine weiße Plastikschale mit Blutproben, in der anderen einen Schlüsselbund.

„Bitte warte dort.“ Weiler zeigte auf eine Türe mit einem großen Sichtfenster. „Ich lasse deinen Vater holen.“

Weiler verschwand hinter der nächsten Biegung. Es dauerte nicht lang, bis er und ein Pfleger wiederkamen. Sie führten einen gebückten Mann, der den Blick zu Boden gerichtet hielt. Er schwankte ein wenig, als hätte er Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

Dass dieser Mann, dem die verfilzten Haare ins Gesicht hingen, der die Hände ineinander gekrallt hatte und ständig blinzelte, wirklich sein Vater war, wirkte auf Fabian, als wäre die Realität aus dem Rahmen gefallen und hätte einer anderen Ebene Platz gemacht. Entweder hatte sein Gedächtnis die schrecklichen Details des letzten Besuchs vor mehr als zwei Jahren getilgt oder der Zustand seines Vaters hatte sich verschlechtert.

Wahrscheinlich beides.

„Du hast fünf Minuten“, sagte Weiler. „Gregor wird euch durch das Sichtfenster beobachten und eingreifen, falls etwas aus dem Ruder läuft.“

„Was soll denn aus dem Ruder lau…“

Weiler hatte sich bereits abgedreht und zog von dannen.

Fabians fragender Blick zu Gregor zersplitterte an dessen wie einbetoniertem Gesicht. Der Pfleger bugsierte seinen Vater zu einem weißen Plastiktisch und drückte ihn auf einen der beiden Stühle. „Fünf Minuten“, wiederholte er, obwohl Fabian bezweifelte, dass dieser Grobklotz überhaupt so weit zählen konnte.

Sein Anflug von Zynismus verflog, als er den Blick seines Vaters bemerkte, der einfach durch seinen Sohn hindurchglitt.

Er nimmt mich nicht einmal zur Kenntnis.

„Hallo, Papa.“

Keine Reaktion.

„Ich bin gekommen, um mit dir darüber zu reden was … was damals passiert ist.“

Sein Vater blinzelte, aber das tat er sowieso die ganze Zeit, weswegen es nicht als Reaktion durchging.

„Kurz nach dem … Zwischenfall im Dorninger Forst bist du verschwunden. Zwei Wochen lang. Bei deiner Rückkehr warst du … verändert.“ Fabian schluckte. „Was ist dir widerfahren? Ich muss es wissen.“

Die Hände seines Vaters zuckten. Ansonsten regte er sich nicht.

Fabian blickte auf die Uhr: Schon zwei Minuten vorbei.

Ich muss es anders versuchen.

Vorsichtig, sodass Gregor hoffentlich nichts bemerkte, holte Fabian den Kinderschuh seines Vaters hervor.

Sofort richteten sich dessen Augen darauf.

Fabian hielt den Atem an.

Sein Vater kicherte, ein Klang, der Fabian die Nackenhärchen aufstellte.

„Du Narr.“ Sein Vater blickte ihm direkt in die Augen, was schlimmer war als das leere Starren. Der Wahnsinn, der hinter den glanzlosen Pupillen geruht hatte, brach hervor. „Lass die Vergangenheit ruhen!“

Fabian spannte die Muskeln, weil er fürchtete, sein Vater würde sich über den Tisch hinweg auf ihn stürzen. Aber dazu kam es nicht: Das Feuer in den Augen seines Vaters verlöschte.

Nach einigen Sekunden wagte Fabian es, wieder zu sprechen: „Was meinst du damit? Ich soll die Vergangenheit ruhen lassen?“

Keine Reaktion.

Verflucht!

Fabian verstaute den Schuh in der Innentasche seiner Jacke, griff nach dem Stein und hielt ihn seinem Vater direkt vor die Nase. War der Schuh eine Hacke gewesen, die das Eis kurz durchstoßen hatte, so war der Stein eine Atombombe. Nicht nur Feuer tobte in den Augen – sondern die Hölle selbst!

„Du Wahnsinniger!“ Kerzengerade schoss sein Vater in die Höhe.

Vor Schreck rutschte Fabian mitsamt Stuhl zurück und hörte, wie sich hinter ihm die Tür öffnete.

Was nun? Sollte es Gregor gelingen, den Raum zu betreten, wäre der Besuch zu Ende.

Ich bin nicht hergekommen, um mit leeren Händen zu gehen!

Fabian warf sich gegen die Tür. Gregors Ausruf der Überraschung wandelte sich in Schmerz, da die Tür seinen Unterschenkel quetschte. Der Pfleger zog das Bein zurück, die Tür knallte zu. Fabian griff nach dem Plastikstuhl und drückte die Lehne unter die Klinke. Gregor rüttelte daran, doch sie verkantete sich. Die Lehne bog sich bedenklich nach unten. Lange würde das den hünenhaften Kerl nicht aufhalten.

Fabians Vater stand mit dem Rücken gegen die Wand gedrückt. Sein Blick flog umher wie der eines Tiers, das nach einem Fluchtweg suchte.

„Was hat es mit dem Stein auf sich?“

Sein Vater hob die Arme wie zur Abwehr eines Schlags. „Er wird dich ins Verderben reißen!“

„So, wie er dich ins Verderben gerissen hat?“

Langsam ließ sein Vater die Arme sinken. „Ja …“

„Wie ist es passiert? Bitte, ich muss es wissen.“

„Quäle mich nicht.“ Sein Vater sank an der Wand herab. „Quäle mich nicht!“ Seine Stimme wurde schriller. „Ist das der Dank, dass ich dich vor dem Bösen gerettet habe?“ Der Strudel des Wahnsinns verschleierte wieder seinen Blick.

„Du hast mich im Wald gerettet?“

„Das Böse will dich vernichten!“

„Warum hast du mir nie davon erzählt?“

„Er hetzte seine Dämonen auf dich, mein Sohn!“ Unvermittelt kroch sein Vater auf allen vieren auf ihn zu und presste die Wange gegen seinen Oberschenkel. „Vater hätte mir nie den Stein geben sollen …“

„Wer? Großvater Konrad?“

Ein Krachen. Die Tür flog auf. Bevor Fabian sich herumdrehen konnte, riss man ihn zu Boden und drehte ihm die Arme auf den Rücken. Machtlos musste er zusehen, wie ein Pfleger seinen Vater ergriff und mitnahm.

Ihre Blicke trafen sich ein letztes Mal. „Du musst schlafen, darfst nicht zu lange wach bleiben. Und halte den Stein nicht in der Hand.“ Er stockte. „Vergiss mich nicht …“

 

***

 

Auf dem Parkplatz wirbelten Fabians Gedanken mit den Schneeflocken um die Wette. An das dem Zwischenfall folgende Gespräch mit Weiler erinnerte er sich nicht, wohl aber an Gregors Stahlgriff, als dieser ihn mehr zum Haupteingang geschleift als begleitet hatte. Geistesabwesend rieb sich Fabian die Schulter und blickte zurück. Gregor stand im Haupteingang und machte keine Anstalten, ins Gebäude zu gehen.

Die Geschehnisse im Sanatorium kamen Fabian mit einem Mal unwirklich vor, gleich einem Wachtraum. Dennoch hatte sich jedes Wort seines Vaters mit unbarmherzigem Griffel in sein Gedächtnis geritzt. Dass sein Vater ihn in besagter Nacht gerettet haben wollte, war absurd. Zudem hätte er sich keinen Umhang mit einem goldenen Baum und einem goldenen Adler übergeworfen. Was meinte er nur mit dem Bösen und seinen Dämonen? Und weshalb sollte Fabian schlafen und den Stein nicht zu lange in der Hand halten?

Kopfschüttelnd wischte Fabian den Neuschnee vom Golf, stieg ein und fuhr los.

Vater hätte mir den Stein nie geben dürfen …

Diese Aussage seines Vaters verstand er am allerwenigsten.

Denn mit ‚Vater‘ konnte Maximilian Arendt nur seinen eigenen Vater Konrad Arendt gemeint haben. Das allerdings war unmöglich: Konrad Arendt galt seit 1944 als im Krieg vermisst.

Fabians Kopf pochte. Er brauchte Ruhe und eine Mütze Schlaf.

 

*

 

Blaue Lichtblitze schnitten durch die Dunkelheit. Ein Gefühl unheilvoller Vorahnung strich wie Geisterhauch über Fabians Haut.

Ein Krankenwagen stand vor seinem Haus. Stumm rotierten die Blinklichter, ihr Blau überschauerte Schnee und Hausfront im Sekundentakt. Die Haustür stand offen, und einige Personen waren im Gegenlicht der Innenbeleuchtung zu erkennen.

Fabian schaltete den Motor ab und stieg aus. Seine Beine fühlten sich an wie mit Blei gefüllt.

Eine Rettungstrage.

Darauf seine Mutter.

„Nein!“ Er rannte zu den Sanitätern, die die rollbare Trage in den Krankenwagen schoben. Sein Bruder war auch dort, das Gesicht ausdruckslos. Als er Fabian sah, verzerrten sich seine Züge. Er schritt auf ihn zu und packte ihn am Kragen.

„Was hast du dir dabei gedacht? Professor Weiler hat angerufen. Mutter ist ans Telefon.“ Er schüttelte Fabian. „Du beschissener Freak! Wegen dir hat sie einen Herzanfall erlitten!“

Fabian wehrte sich nicht. Konnte sich nicht wehren. Der kurze Stolz darüber, dass er seine Angst überwunden und sich nicht von seinem Vorhaben hatte abbringen lassen, war verflogen. Er konnte seinen Bruder nur anblicken, und wie von fern fiel ihm auf, dass dessen mit Gel gestylte Frisur zum ersten Mal, seit er denken konnte, zerzaust war.

Markus schien kurz davor, ihn zu schlagen. „Was hast du dir dabei gedacht?“

Da tauchte Janine auf und legte Markus die Hand auf die Schulter. „Hör auf. Siehst du nicht, dass er genauso geschockt ist wie du?“

Tatsächlich ließ Markus von Fabian ab.

„Ich … ich wollte das nicht.“

„Es geht um die Sache im Dorninger Forst, oder? Du hättest gleich bei unserem Vater bleiben sollen! Kein Wunder, dass alle denken, die Arendts sind verrückt!“ Markus ballte die Fäuste. „Du bist auch ein Irrer! Ein Durchgeknallter! Und jetzt hast du Mama auf dem Gewissen!“

Janine fasste Markus an der Jacke und zog ihn zurück. Einer der Sanitäter kam und sprach mit Markus.

Fabian stand allein und blickte zu den Milchglasscheiben des Krankenwagens, hinter denen sich Schatten bewegten.

Seine Mutter kämpfte gegen den Tod.

Und er war schuld daran.

ENDE DER LESEPROBE

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