Kapitel 1
Wie versteinert wirkte die dunkle, furchige Fratze. Nur in den Augen, welche die im Anhänger ruhende Locke fixierten, glomm Leben. Dann bewegten sich Dabenas’ Lippen, und die Stimme klang, als entstiege sie einer Gruft: „Woher hast du das Haar meiner Liebsten?“
Feywind wusste, seine Antwort würde über ihr aller Schicksal entscheiden. Natürlich musste er lügen. Falls er sagte, diese Locke stamme von einer Elfe und nicht von Lija, würde Dabenas jedem von ihnen den Schädel spalten.
„Sprich!“, donnerte der Untote, sein Blick weiterhin auf den Anhänger gerichtet. Nun löste er die linke Hand vom Griff seines Schwerts und tastete mit verdorrten Fingern über den schwarzen Lederharnisch, ein Geräusch, als schabten Äste über Stein.
Feywind sah genau hin: Ungefähr dort, wo Mangdalans Klinge eingedrungen war, baumelte weder ein Anhänger noch ein Medaillon oder sonst irgendetwas. Wie leer geräumt wirkten Dabenas’ Augen mit einem Mal, während der Verstand dahinter verzweifelt nach einer Antwort auf den Verbleib des eigenen Anhängers zu suchen schien. Was wusste er von seinem früheren Leben? Seit dem Kampf gegen die Jünger der Verdammnis war viel, viel Zeit verstrichen. Wahrscheinlich türmten sich in seinem Kopf Erinnerungsfraktale, die er weder kausal noch zeitlich zusammenfügen konnte, ein riesiger Scherbenhaufen eben.
Ein Flappen, dann zwei Flammenstöße. Unerwartet schnell sprang Dabenas zur Seite, rollte sich über die Schulter ab und kam wieder auf die Füße, Arsan Dragul fest umklammert. Shnurk und Fippa flogen den nächsten Angriff, und zwei weitere Flammensäulen rauschten auf Dabenas zu. Statt auszuweichen, nahm er Anlauf und sprang ab. Weder Feywind noch Shnurk hatten mit solch einem Satz gerechnet. Reflexartig zog Shnurk nach rechts weg – und entging dem im Sprung ausgeführten Hieb mit mehr Glück als Verstand.
Überdies zeigten die Drachenflammen kaum Wirkung. Als Dabenas landete, loderten lediglich ein paar kleine Zungen, die er wie beiläufig ausklopfte. Offensichtlich war er schon so verdorrt, dass Feuer bei ihm keine Nahrung mehr fand.
„Aufhören!“, rief Feywind und erhob sich. „Und zwar alle!“
Shnurk und Fippa kreisten hoch über Dabenas, unerreichbar, egal was er tat. Dabenas beobachtete die beiden Schrumpfdrachen trotzdem, warf aber auch immer wieder einen raschen Blick zu Mangdalan, Cass und Feywind. „Die sollen nicht noch einmal versuchen, mich abzufackeln. Sonst werde ich ungemütlich.“
„Waffenstillstand?“, fragte Feywind.
„Lija.“ Aus Dabenas’ Mund klang der Name, als zöge jemand Felsgestein über eine Metallreibe.
„Ja, Lijas Locke“, sagte Feywind. „Ich gebe sie dir – sofern du gelobst, meine Freunde von nun an zu verschonen.“ Fippa und Shnurk signalisierte er, sie sollten auf Abstand bleiben.
„Ich muss …“ Dabenas verstummte, und seine ausgetrockneten Lider senkten sich über die Augen, ein langsames Blinzeln, als würde die Zeit ihren eigenen Takt vergessen. „Sie könnte wieder bei mir sein. Manchmal meine ich …“ – sein Blick schweifte kurz zum Tempel – „… dass ich ihre Stimme höre. Als würde sie nach mir rufen.“ Zorn vertiefte die Furchen in seinem Gesicht. „Dann singt mein Herz. Aber es ist nur Trug. Denn sie ist tot!“
„Vielleicht nicht für immer“, sagte Feywind vorsichtig.
Dabenas beobachtete ihn genau. Schließlich streckte er die linke Hand aus, während seine rechte sich fester um den Griff Arsan Draguls schloss. „Die Locke.“
Ein leises Stöhnen erreichte Feywinds Ohr. Er schielte nach unten: Cass hob den Kopf und sah ihn aus verschleierten Augen an.
Erleichterung durchflutete ihn.
„Wie kann sie noch leben? Arsan Draguls Biss ist tödlich. Immer.“ Dabenas wechselte die Griffhaltung seines Schwerts, indem er es kurz losließ, hochwarf und wieder schnappte. Nun zeigte die Spitze nach unten, direkt auf Cass. Er hob den Arm, um ihr Arsan Dragul ein weiteres Mal in den Körper zu rammen.
„Nein! Hast du vergessen, was wir ausgemacht haben?“ Feywind entfernte sich von Dabenas. „Wenn du das tust, verbrenne ich die Locke!“
Dabenas verharrte in der Bewegung, doch ein finsteres Lächeln spaltete die ausgemergelten Lippen. „Womit willst du sie denn verbrennen?“ Ein Lachen wie aus einem dunklen Minenschacht.
Feywind öffnete die Handfläche, kanalisierte seine Magie: Eine Flamme materialisierte sich, flackerte, kippte leicht von links nach rechts, als würde sie zu einem Lied tanzen. Mit Daumen und Zeigefinger nahm er die Locke aus dem Anhänger und näherte sie der Flamme.
„Halte ein!“ Zum ersten Mal hörte Feywind, wie auch die Stimme eines Untoten Entsetzen ausdrücken konnte.
„Geh weg von ihr.“
Dabenas entfernte sich von Cass. Darüber hinaus fädelte er Arsan Dragul in die Scheide ein und hob kurz die Hände. Aus seiner Mimik jedoch sprachen Hass und Ablehnung. „Magie“, knurrte er. „Noch nie hat sie etwas Gutes hervorgebracht.“
„Tatsächlich? Und was war, als Tafmaril jenen Dämonenfürsten, den die Jünger der Verdammnis beschworen hatten, in ein magisches Gefängnis bannte?“
Dabenas sah kurz zur Seite, wirkte mit einem Mal verkrampft oder angestrengt. „Ich …“, begann er, verstummte aber.
„Du erinnerst dich nicht“, stellte Feywind wenig verwundert fest: Wer sich nicht mal an einen vor wenigen Herzschlägen geschlossenen Waffenstillstand erinnern konnte, für den war weiter Zurückliegendes nur eine neblige Suppe.
Dabenas’ Kopf ruckte wieder herum. Der Blick der glanzlosen schwarzen Augen schien sich in Feywind hineinfressen zu wollen. „Die Locke.“
Ach, das weiß er noch …
Feywind näherte sich ihm vorsichtig, die Flamme weiterhin mit seiner Kraft speisend. „Du hast die Welt vor einer großen Gefahr gerettet.“
Dabenas wartete. Wortlos. Starr.
Ist da noch etwas anderes als Zorn, Frust und Hass? Oder ist das alles, was übrigbleibt, wenn das Schicksal einem solch ein Dasein auferlegt?
„Tafmaril war dein Freund. Was ist ihm widerfahren?“
„Die Locke“, grollte Dabenas.
„Sag uns, was hier geschehen ist. Wer hat dich zu dem gemacht, was du jetzt bist?“
Ohne Verständnis ruhten Dabenas’ Augen auf Feywind. „Ewige Verdammnis“, wisperte er dann, und seine Stimme schien zu schwanken. „Wollte ich diese abwenden? Oder ist sie mein Los? Ich weiß es nicht mehr …“
Unvermittelt wirbelte er herum, zog Arsan Dragul und hielt sein sagenumwobenes Schwert kampfbereit über dem Kopf erhoben. Feywind stellte es die Nackenhärchen auf. Was lauerte in den Nebelschweifen, das ein Kämpfer wie Dabenas als Gefahr einstufte?
Aus dem Augenwinkel gewahrte Feywind eine Bewegung. Doch war es kein plötzlich auftauchender Feind, der zu ihm kroch – sondern Cass.
Er ließ die Flamme ersterben, steckte seinen Anhänger zurück in den Kragen und näherte sich ihr. Dann packte er sie an den Handgelenken und zog sie über den feuchten Boden, bis er sich weit genug von Dabenas entfernt hatte, um zu reagieren, falls sich bei diesem wieder der Wahnsinn einschleichen und Blutdurst wecken sollte.
„Feywind …“
Behutsam strich er ihr das schwitzige Haar aus der Stirn. „Wie geht es dir?“, fragte er, bevor er sich auf die Zunge beißen konnte.
Knochenweiß floss das Mischlicht der drei Gestirne über ihr Gesicht, und um die Augen lagen dunkle Ränder. Dennoch brachte sie ein Lächeln zustande. „Selten so gut gefühlt …“, murmelte sie, hustete. Dann richtete sie den Oberkörper auf und stützte sich mit den Händen im Gras ab.
„Übertreib es nicht. Ich dachte wirklich, diesmal war es das mit dir.“
„Das Gefühl hatte ich auch.“ Sie tastete über das mit Blut vollgesogene Wams, bis ihre Finger den Schnitt fanden, wo Arsan Dragul ihren Körper durchdrungen hatte. „Er hat mein Herz erwischt. Ich habe gespürt, wie es zu schlagen aufhören wollte – und irgendwie weitermachte.“ Sie schluckte, atmete durch und schloss kurz die Augen. „Hilf mir auf.“
„Nein. Du ruhst dich aus. Entgehen können wir Dabenas sowieso nicht.“
„Und töten?“
„Äußerst schwierig – und vielleicht gar nicht nötig.“
Sie hob eine Augenbraue.
„Wir haben einen – wenn auch brüchigen – Waffenstillstand.“
Sie lächelte schwach. Dann legte sie sich wieder hin. „Du wirst wissen, was du tust.“
„Natürlich.“
Nun, eigentlich überhaupt nicht, aber egal …
Etwas blau Leuchtendes taumelte durch die Dunkelheit auf sie zu, und es dauerte einen Moment, ehe Feywind realisierte, was gerade passierte.
„Mangdalan“, wisperte er.
Die Schritte seines Freundes glichen einem Vorwärtstaumeln, und das Blut um die Lippen und ums Kinn herum sah aus wie Pech, das ihm aus der Nase strömte. Blaue Energieschleifen stiegen aus der Seelenkette und rasten über Oberkörper und Arme, bis sich zwei Ausläufer wie die Zangen einer Gottesanbeterin über Mangdalans Kopf schlossen und Funken in die Luft sprühten.
„Du schon wieder …“, sagte Dabenas.
„Auch ihm krümmst du kein Haar!“
Das hatte Dabenas offenbar gar nicht vor, denn er verfolgte Mangdalans torkelnde Schritte lediglich neugierig. Arsan Dragul ließ er sinken.
Auf Feywind wirkte Mangdalan wie einer jener Wiedergänger, die er in der Schlacht gegen Brenden und die karathische Verstärkung beschworen hatte: Ohne eigenen Antrieb, ohne zu wissen, was er tat oder wollte oder warum er überhaupt existierte.
Wie es aussieht, zieht die Seelenkette ihre Energie aus der Insel oder dem Tempel.
Dabenas setzte einen Schritt auf Mangdalan zu.
„Nein!“, schrie Feywind. „Ich vernichte die Locke, solltest du …“
„Ich will ihm nichts tun“, grollte Dabenas, ohne Feywind anzusehen. Sein Interesse galt offenbar dem blauen Leuchten sowie den Blitzverästelungen, die weiterhin über Mangdalans Körper knisterten und jetzt auch über sein Gesicht zuckten. Mit jedem Entladungsschauer schienen seine Züge schlaffer zu werden: Mangdalan verlor an Kontur, an Profil, als stünde er davor, sich einfach aufzulösen.
ENDE der Leseprobe
Schließen