Kapitel 1
Begeistert deutete Cass auf ein breites Gebäude mit Steinfundament, darüber Stämme aus dunkel gebeiztem Holz, die man mit alten Fischernetzen und Muscheln dekoriert hatte. „Hört ihr es auch? Dieser Ort ruft nach uns.“
Valdor verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich höre lediglich dummes Gefasel.“
Feywind warf sowohl Cass als auch Valdor einen warnenden Blick zu. „Keine Reibereien.“
Cass lächelte unbeeindruckt. „Auf jeden Fall sind wir richtig.“
„Sieht zumindest seemannsgarnig aus“, sagte Feywind, denn auf dem Vordach stand ein aus Steingut geformtes aufgeschlagenes Buch, aus dessen Seiten verknotete Stricke nach unten hingen. An einem davon baumelte eine Matrosenpuppe und erweckte den Anschein, daran emporzuklettern.
Mürrisch schaute Valdor ihn an. „Was für ein erbärmlicher Versuch, einem anstehenden Besäufnis mit Wortwitz beizukom…“
„Er kann es einfach nicht lassen.“ Mangdalan lachte kurz auf, ungeachtet der Blässe in seinem Gesicht. Offensichtlich setzten ihm nicht nur die Nachwirkungen des Gifts zu, sondern auch die Erkältung. Als wollte er diese Vermutung unterstreichen, nieste er in den Ärmel seines Kaftans und sah Feywind aus geröteten Augen an. „Shnurk hat auch mich angesteckt.“
Zwar gluckste Cass, wandte den Blick jedoch nicht von der Schenke ab, weil sie sich offenbar bereits in die ersten Bierkrüge träumte. „Zum Glück gibt es noch freie Tische.“ Gerade wollte sie losmarschieren, als von der gegenüberliegenden Seite des Platzes Flötenmusik zu ihnen driftete. Neugierig drehte sie sich herum.
Auch Feywind schaute in Richtung der Musik. Sie befanden sich im westlichen Teil des Hafenviertels, der weniger von lärmenden Seemännern als nächtlichen Schwarmgeistern besucht wurde, sodass es dem Anschein nach leiser und gesitteter zuging als in den Schenken nahe den Kais.
Die Mitte des Platzes beherrschte eine aus Korallen gefertigte Statue von Habron ibn Targui, jenes Philosophen, den der Emir so schätzte. An den ausgestreckten Armen, die den Eindruck erweckten, als wollte ibn Targui die Menschen zu sich bitten, schwangen eine stattliche Zahl Schnüre mit daran befestigten Holzplättchen in der sanften Brise, deren letzte Ausläufer es mit Ach und Krach von den weit entfernten Docks bis hierher schafften. Karathische Schriftzeichen waren in die Holztäfelchen geritzt. Feywind vermutete, dass es sich um Wünsche und Gebete handelte.
Die Flötentöne erklangen von einer Bühne, der Rumfässer als Unterbau dienten.
„Wollen wir kurz hinschauen?“, fragte Cass.
Er hob die Schultern. „Meinetwegen.“
Nachdem sie die Statue passiert hatten, sahen sie den Musikanten, der eine pludrige Samthose, golden schimmernde Schnabelschuhe und auf dem Kopf eine mit Lederstreifen verstärkte Stoffhaube trug. Die nackte Brust zierte eine tätowierte Schlange mit aufgerissenem Maul. Er wiegte sich zur Melodie seiner Flöte, die er langsam von links nach rechts schwenkte, als spielte er ein Wiegenlied für das, was auch immer sich in dem großen Bastkorb zu seinen Füßen befand.
„Was ist da wohl drin“, fragte Cass – und erhielt prompt die Antwort: Der kantige, wie ein Keil geformte Kopf einer Schlange erhob sich daraus. „Was für ein Biest!“, rief sie, und durch die Zuschauer ringsum ging ein Raunen.
Das Licht der Fackeln, die auf den vier Eckpfosten der behelfsmäßigen Bühne brannten, brach sich glänzend auf den sandfarbenen Schuppen des Reptils. Aber nicht allein dessen Größe entriss den Kehlen der Menschen ein weiteres und diesmal viel lauteres Raunen.
Mangdalan schüttelte sich vor Ekel. „Sind das Spinnenbeine?“
Auch Feywind lief ein Schauder über den Rücken, als er drei behaarte Beinpaare betrachtete, die aus dem Nackenschild der Schlange wuchsen. Sie bewegten sich, als sehnten sie sich danach, auf dem Holzboden der Bühne herumzukrabbeln, aber der Kopf der Mischkreatur folgte den Bewegungen der Flöte, als spannte sich zwischen Instrument und Hals ein unsichtbares Band.
„Faszinierend.“
Valdor bedachte Feywind mit einem skeptischen Blick. „Ich finde dieses Geschöpf eher widerlich.“
„Ich meine den Auftritt an sich: Der Mann scheint das Tier durch die Musik in eine Art Trance zu versetzen.“
„Oder durch die Bewegungen“, sagte Valdor.
„Oder beides.“
„Können Schlangen überhaupt etwas hören?“
„Um ihre Beute aufzuspüren, wäre ein scharfes Gehör sinnvoll.“
Valdor schüttelte den Kopf. „Es liegt an den Bewegungen.“
Cass warf ihnen einen verärgerten Blick zu. „Hört auf, das stört.“
Feywind schaute Valdor an. Valdor schaute zurück.
Zu Feywinds Überraschung lenkte Valdor ein: „Da wir unsere Behauptungen durch wissenschaftliche Beweise weder verifizieren noch widerlegen können, sollten wir uns auf ein Unentschieden einigen.“
„Akzeptiert“, entgegnete Feywind, ehe er grinste. „Obwohl ich überzeugt bin, dass es an der Musik liegt.“
„Ach, werter Kollege, Ihr stellt eine Verbohrtheit zur Schau, die ich von Euch gar nicht gewohnt bin.“
„Zugegeben lausche ich gerade nur meinem Bauchgefühl, aber … Aua!“
Sein rechtes Ohrläppchen hing genau wie Valdors linkes im Griff von Mangdalans Fingern. „Es nervt langsam, verstanden?“ Um die Folgen einer Missachtung dieser Warnung anzudeuten, drückte er für die Dauer eines Lidschlags fester zu. Dann ließ er los und verschränkte die Arme vor der Brust.
Betreten sah Feywind wieder zur Bühne. Gewiss ein halber Meter Schlangenleib ragte inzwischen aus dem Bastkorb. Der Kopf pendelte weiterhin von einer Seite zur anderen, immer der Flöte folgend. Gelegentlich züngelte eine gespaltene, dunkle Zunge aus dem Maul, und manchmal, wenn auch nur ganz leise, hörte man ein Zischeln.
„Ich gehe eindeutig in Richtung Würgeschlange.“ Der Drang in Valdor, sein Wissen zu verbreiten, war offenbar übermächtig. „Giftschlangen sind für gewöhnlich nicht so massiv.“
„Wahnsinn!“, zischte Cass. „Massiv werden deine Schmerzen sein, falls du nicht sofort dein Maul hältst!“
Valdors Gesicht verfinsterte sich, er öffnete abermals den Mund.
„Sehr massiv“, brummte Mangdalan.
Valdors Lippen schlossen sich wieder, ehe er, sichtlich beleidigt, den Blick wieder zur Bühne wandte.
In diesem Moment kippte der Bastkorb. Mit einem Satz schnellte der restliche Schlangenleib hervor. Gelassen setzte der Beschwörer einen Schritt nach hinten. Gehörte dies zur Aufführung oder kaschierte er diese unerwartete Wendung einfach nur sehr gekonnt?
Aus der Menge tönten Ausrufe des Schrecks wie des Ekels, denn aus dem Korb rutschte das wie aufgeblasen wirkende, schwarz glänzende Segment einer Spinne, gestützt vom vierten Beinpaar, das dem Nackenschild fehlte. Bis zum Kinn des Beschwörers reichte die Monstrosität. Gebannt wartete die Menge, atemlos geradezu. Würde das Biest den Bann brechen und seinen Herrn und Meister angreifen?
Tatsächlich riss es das Maul weit auf, entblößte steil nach unten ragende Fangzähne, von denen Tropfen einer blassen Flüssigkeit auf die Bühne tropften. Wo sie das Holz trafen, zischte es, und Dampf stieg auf.
Erneute Rufe aus der Menge, eine Frau in der Zuschauerreihe vor ihnen kreischte sogar, ehe sie sich angewidert herumdrehte und davoneilte, gefolgt von einem Mann mit Turban, der besänftigend, doch ohne Erfolg auf sie einredete.
Der Flötenspieler indes spielte einfach weiter, ohne einen falschen Ton zu treffen. Abermals tropfte Gift zu Boden, dann schloss das seltsame Tier sein Maul, duckte sich und verschwand halb schreitend, halb kriechend im Bastkorb.
Cass präsentierte Valdor ein schadenfrohes Lächeln. „So viel zu Würgeschlange, du Alleswisser.“
Valdor ließ sich nur zu einem hochmütigen „Pah!“ hinreißen, was Feywind erleichterte: Auf einen neuerlichen Streit zwischen den beiden – noch dazu auf einem gut bevölkerten Platz – konnte er verzichten.
„Ganz nett“, meinte Valdor, nachdem der Flötenspieler den Deckel auf den Bastkorb gedrückt und Halteriemen angebracht hatte, um zu verhindern, dass sein Haustier es sich anders überlegte und ihm eine Giftladung in die Hand jagte. Zuletzt richtete er das Behältnis auf, ehe er lächelnd an den Rand der Bühne trat und sich verbeugte.
Das Publikum klatschte begeistert; Cass, Mangdalan und Feywind ebenso. Selbst Valdor applaudierte, wenn auch verhaltener.
Der Mann nahm die lederverstärkte Haube vom Kopf, legte sie falschherum auf den Deckel des Bastkorbs, förderte eine Münze aus der Hose – und schnippte sie mit dem Daumen ins Ziel. Dann sah er zum Publikum und vollführte eine einladende Handgeste in Richtung Haube. Dafür erntete er ein paar Lacher und viele Wurfversuche. Die wenigsten trafen das Ziel, doch fischte er die meisten Dinare so gekonnt aus der Luft, dass nur wenige aufs Holz klackerten.
Cass knuffte Feywinds Oberarm. „Komm schon, gib ihm was.“
„Hast recht.“ Er nahm einen Dinar aus seinem Geldsäckel am Gürtel und versuchte sein Glück.
Sein Wurf verfehlte die Haube – nicht aber die Handfläche des Schlangenbeschwörers, der dankbar sein Haupt neigte, ehe er sich den nächsten zu weit geschleuderten Dinar schnappte.
Gern hätte Feywind mit dem Mann darüber geredet, wie er an seine Schlangenspinne gekommen war, denn bestimmt hatte ein Verschmelzer sie geschaffen. Leider war dieser weiterhin beschäftigt, Dinare zu fangen, weswegen Feywind zurück zu seinen Gefährten schlenderte. Irgendwann musste er Flutius nochmals auf seinen skurrilen Begleiter Besmet ansprechen, denn er wollte das Geheimnis um die Fertigkeiten der Verschmelzer lüften. Zuerst aber musste er Shnurk finden. Das hatte oberste Priorität.
***
Als sie bei der Taverne anlangten, deutete Cass zum überdachten Außenbereich, wo rustikale Holztische und -bänke aufgestellt waren. Auf jedem brannte eine Kerze in einem Gefäß aus rotem Butzenglas, das in einem Ring aus geflochtenen Blumen stand. Öllichter an den Stützpfosten des großen, zur Straßenseite leicht schräg abfallenden Vordachs verströmten sanftes Licht. „Schaut mal, der Tisch ganz außen. Der ist doch gut, oder?“
„Gut ist übertrieben, doch zumindest sieht das Etablissement ansprechender aus als die Hafenmaid, diese erbärmliche Spelunke.“ Valdor rümpfte die Nase. „Wenn auch nur um Nuancen.“
Cass warf ihm einen halb verärgerten, halb mokanten Seitenblick zu. „Tut mir schrecklich leid, dass dieses Etablissement nicht Eurem Anspruch genügt, Hochwürden.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wie kann man den ganzen Tag über nur so furchtbar gedrechselt herumschwadronieren?“
Valdor wollte etwas entgegnen – mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas Sarkastisches oder Beleidigendes –, doch Feywind brachte ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen. „Ich wiederhole es gerne ein weiteres Mal: keine Streitereien. Lasst uns diesen Abend genießen. Morgen sehen wir weiter.“
Cass strebte bereits auf den von ihr auserkorenen Tisch zu, doch ein stämmiger Mann in einer mit Silberranken verzierten Weste hielt sie auf – nicht unfreundlich, aber bestimmt. Er sagte etwas zu ihr, worauf sie die Stirn runzelte und zu Feywind schaute.
„Dein Einsatz, Valdor.“
Dieser seufzte und hörte sich an, was der stiernackige Karathier ihm vermitteln wollte. Nach einiger Zeit nickte er. „Wenn ich das richtig verstanden habe, findet heute Abend eine besondere Veranstaltung statt. Jeder, der dieser beiwohnen möchte, muss fünf Dinare bezahlen.“
„Das können wir uns leisten, oder?“, fragte Cass und legte ein stummes Flehen in ihren Blick.
Insgesamt zwanzig Dinare. Danach hätten sie nur noch sechzig.
Versprochen ist versprochen.
„Natürlich“, erwiderte Feywind somit, woraufhin sie ihm ein kokettes Lächeln schenkte.
Er zahlte den Betrag und setzte sich neben sie. Mangdalan nahm ihr gegenüber Platz, Valdor gegenüber Feywind. Dadurch hockten die beiden Streithähne so weit voneinander entfernt wie in dieser Konstellation möglich.
Am liebsten hätte Feywind den Kopf auf den Tisch gebettet, um ein Nickerchen zu halten. Die letzte Nacht steckte ihm in den Knochen. Weder bedauerte er es, dass Abrum ibn Gershek zu Tode gekommen war, noch verspürte er Genugtuung, sondern war einfach nur froh, dass dieses Kapitel beendet war. Nun, zumindest war es für Asthyra und die anderen beendet. Ob es für ihn und seine Gefährten ein Nachspiel gäbe, würde sich zeigen. Falls die Anhänger der roten Schnüffler nämlich ein ähnliches Gemüt besaßen wie ihr verblichener Anführer, dürstete es ihnen bestimmt nach Rache.
Er sah zu Cass. Ihr Turban saß fest und gerade. Keine rote Haarsträhne wagte sich heraus. Falls man ihnen auf die Schliche käme, dann höchstwahrscheinlich ihrer Haarfarbe wegen. Bislang war Feywind in Arûbir keinem anderen rothaarigen Menschen begegnet.
Sie sah ihn ebenfalls an.
Er räusperte sich und schaute weg – und zwar direkt in Valdors angesäuertes Gesicht. Obwohl dieser in Sachen Haarfarbe, Gesichtsform und Barttracht am ehesten nach Arûbir passte, wirkte er dennoch so fehl am Platz wie ein Pfau in einem Hühnerstall.
„Was ist? Habe ich Brösel im Bart oder was?“ Prüfend fuhr er seinen Kinnbart nach und zupfte ein wenig daran herum, offenbar unzufrieden mit der Beschaffenheit, da einige Härchen herausstanden wie Borsten aus einem zu oft benutzten Pinsel.
„Nein, siehst blendend aus“, murmelte Feywind und schaute nach rechts in Richtung Meer, über dem sich vom Abendrot rosig getönter Nebel ausbreitete. Die Schiffe glänzten, als hätte man sie mit Honig bestrichen. Arûbir war eine schöne Stadt, und zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass er diesen Anblick vermissen würde, wenn er irgendwann weiterzog.
Falls das jemals geschieht, keckerte eine gehässige Stimme in seinem Kopf. Vielleicht bringen dich vorher Gersheks Häscher um. Oder der Emir lässt dich hinrichten, weil du Unfrieden gestiftet hast.
Eine stämmige Frau trat zu ihnen an den Tisch und sagte etwas auf Karathisch. Sie hatte bronzene Haut und grell geschminkte Lippen und Augen. An ihren bloßen Oberarmen glänzten kupferne Zierreifen.
Valdor schien nachzudenken, was sie gesagt hatte, doch die Frau kam ihm zuvor: „Nix von hier, nein?“ Nun dachte sie angestrengt nach. „Was haben wollen?“
„Etwas zu essen.“ Feywind zwinkerte Cass zu. „Und natürlich Bier.“
Cass nickte zufrieden.
„Bloß kein Bier“, sagte Valdor sofort, was die Frau zu verwirren schien.
Unsicher fragte sie: „Alle Bier?“
Valdor seufzte aus den Tiefen seiner Seele.
Die Frau stutzte, ehe sich ihr rundliches Gesicht aufhellte. Sie deutete zu einem anderen Tisch, an dem Karathier saßen, vor ihnen aus milchigem, glasähnlichem Material gefertigte Kelche, gefüllt mit einer orangeroten Flüssigkeit. „Frucht.“ Sie rieb sich über den Bauch. „Mjam, mjam.“
Feywind nickte. „Um weiteren Diskussionen vorzubeugen, nehmen wir einfach das.“
„Haben wollen?“
„Ja. Alle wollen davon haben. Und auch etwas zu essen.“
Sie runzelte die Stirn.
Feywind hob die Hand und tat so, als wollte er sich etwas in den Mund schaufeln.
„Ah!“ Nun zählte sie wohl verschiedene Speisen auf, aber eben auf Karathisch.
Fragend schaute Feywind Valdor an. Der jedoch zuckte nur mit den Schultern.
„Egal“, sagte Feywind somit. „Einfach ein bisschen von allem.“
Das Resultat: Erneute Verwirrung bei der Frau.
Diesmal konnte Valdor tatsächlich helfen, indem er ein paar Worte mit ihr wechselte.
Sie nickte und entfernte sich.
„Was hast du gesagt?“, fragte Mangdalan.
Valdor zuckte die Schultern. „Dass sie das Beste holen soll, das sie haben.“
Mangdalan legte die Unterarme auf den Tisch und gähnte. „Ich bin gespannt, was die uns gleich auftischt. Mir den Magen zu verderben, würde mir noch fehlen.“
„Kann gut passieren“, grummelte Valdor. „Damals ist mir zu Ohren gekommen, dass in Karathien Insekten als Spezialität gelten.“
Mangdalan wurde eine weitere Spur blasser. „Du nimmst mich auf den Arm.“
Valdor lachte, und es klang sogar ehrlich, ganz ohne Spott. „Mitnichten! Die sollen tatsächlich Insekten vertilgen. Aber vielleicht ist das ja von Region zu Region verschieden.“
Mangdalans Gesicht spiegelte Abscheu. „Wollen wir es hoffen. Falls die mir gebratene Heuschrecken oder so vorsetzen, kann ich für nichts garantieren. Vielleicht reihere ich dann auf den Tisch.“
Valdor verzog das Gesicht. „Das möge Bendaril verhüten.“
„Leute!“ Tadelnd schaute Cass in die Runde. „Ehrlich, mir vergeht gleich der Appetit.“
„Entschuldige“, sagte Mangdalan. „Lasst uns über etwas Lustiges reden, das die Stimmung hebt.“
Valdor sah zu Feywind. „Ich hätte ein Anliegen, das meine Stimmung deutlich heben würde.“
Feywind erwiderte den Blick. „Und was?“
„Einen erquicklichen Plausch über die mannigfaltigen Möglichkeiten, die jemandem offenstehen, der die Macht des Arkanen sein Eigen nennt.“
„Au ja!“ Cass schnaubte. „Das klingt total spannend …“
„Es steht dir frei, wegzuhören und weiterhin Banalitäten von dir zu geben“, entgegnete Valdor, woraufhin Mangdalan abermals ergiebig gähnte, die Kiefer so weit aufgerissen, als wollte er Cass in die Nase beißen. Erst nach einem Moment hielt er die Hand vor den Mund und murmelte eine Entschuldigung.
Valdor ließ sich von all dem nicht beirren. „Ich darf an unsere Abmachung erinnern, Supremus Magister.“
„Dürft Ihr, erlauchter Erzmagus des Ostreichs. Im Moment jedoch steht mir nicht der Sinn nach derlei strapazierenden Theoremen.“
Valdors Mundwinkel rutschten nach unten. „Gerne würde ich Euch die Zahl all jener Situationen ins Gedächtnis rufen, in denen ich für das Wohl – und sogar Überleben – der Gruppe eingestanden bin, ja?“
Feywinds Hand zuckte in einer Geste, von der er selbst nicht wusste, was sie signalisieren sollte. Am ehesten erinnerte sie ihn an den letzten Flossenschlag eines an Land erstickenden Fisches.
Valdor verstand sie natürlich als Aufforderung. Mahnend hob er den Zeigefinger. „Der Teleportzauber, um aus der Dämonenwelt zu verschwinden; der Blitzschlag, um die Attentäterin zu überwältigen; der Heilzauber in der Grotte; das Scharmützel vor Asthyras Kate – und als Krönung mein Zauber, der das Tor von Gersheks Residenz aufsprengte.“ Er nickte gewichtig. „Meinen guten Willen habe ich oft genug unter Beweis gestellt. Dafür erwarte ich ein gewisses Entgegenkommen, ganz so, wie wir es abgemacht haben, Supremus Magister.“
Cass schüttelte lediglich den Kopf, verschränkte die Arme und sah demonstrativ zur Seite.
Valdor beachtete sie nicht, sondern fixierte weiterhin Feywind. „Und all dies, das sollte nicht unerwähnt bleiben, im Angesicht des Todes – oder Schlimmerem.“
Mangdalan runzelte die Stirn. „Hä?“
In perfekter Theatralik warf Valdor die Arme empor. „Bei jeder von mir generierten arkanen Energiefluktuation spürte ich nicht nur die sinistren Schwingungen des Dämonischen – ich sah sie auch!“
Mangdalans Stirnrunzeln vertiefte sich. „Ich habe nicht einmal die Hälfte verstanden.“
Feywind grinste. „Was Valdor sagen möchte: Er hat sich in große Gefahr begeben, um uns zu helfen.“
Erneute nickte dieser mit großer Geste, als hielte die Welt vor Staunen den Atem an, um seinen Worten zu lauschen. „In größere Gefahr, als man sich überhaupt vorstellen kann! Ein Wunder, dass mich keine dämonische Pranke ins Verderben gezerrt hat!“
„Ich halte diesen Stuss nicht mehr aus.“ Cass erhob sich und verließ den Tisch.
In diesem Augenblick kam die karathische Frau mit einem großen Tablett zurück, dessen Randverzierung einem verknoteten Strick nachempfunden war – wohl eine Hommage an das namensgebende Seemannsgarn. Darauf warteten vier gefüllte Kelche sowie verschiedene, bis zum Rand mit Essen vollgeschaufelte Schüsseln. Wie geschmurgelte Grashüpfer sahen die Speisen auf den ersten Blick zum Glück nicht aus.
Cass schielte zu dem an ihr vorbeiwischenden Tablett. Nach einem Räuspern machte sie kehrt und setzte sich wieder.
„Oho!“, rief Mangdalan. „Ich dachte, ich hätte gar keinen Appetit. Offenbar habe ich mich getäuscht.“ Er schnappte sich eine in weiches Fladenbrot gefüllte Mischung aus Fleisch und Gemüse, kaute, hielt inne, schien nachzudenken – und biss erneut hinein. „Köschtlisch!“
Die Frau lachte und sagte etwas, woraufhin Valdor übersetzte: „Eine lokale Spezialität – Gemüse in Fladenbrot mit hauchfein geschnittenen Stierhoden. Wohl bekommt’s …“
Mangdalan erbleichte und neigte sich zur Seite, als wollte er das Essen neben den Tisch spucken.
„War ein Scherz!“, sagte Valdor schnell. „Meine Güte, jetzt hab’ dich nicht so.“
Mangdalan starrte ihn ausdruckslos an, kaute dann weiter und schluckte. „Das war der erste und letzte Witz dieser Art.“
Abwehrend hob Valdor die Hände. „Schon gut.“
„Was hat sie denn jetzt gesagt?“, fragte Feywind.
„Dass es hier das beste Essen weit und breit gebe. Aber was soll sie auch anderes behaupten?“ Valdor lachte kurz auf. „Dass der Fraß der schrecklichste überhaupt ist und obendrein Magenkrämpfe und Durchfall verursacht, würde sie ja wohl kaum anbringen, oder?“
Mangdalan, der trotz Valdors Scherz inzwischen beim letzten Stück seiner Portion angelangt war, schüttelte vehement den Kopf. „Sie spricht die Wahrheit. Ich schwöre: Das ist kein Seemannsgarn!“
Valdor vergrub das Gesicht in den Händen. „Könnten bitte alle damit aufhören, den Namen dieser Kaschemme für einfältige Wortspiele zu missbrauchen?“
„Ereifere dich nicht so, Valdor“, sagte Feywind. „Lass dich nicht vom Hang zur Geringschätzung umgarnen.“
Cass lachte.
Valdor ließ die Hände sinken, legte den Kopf in den Nacken und bedachte das Vordach über ihm mit einem schicksalsergebenen Augenaufschlag. „Mein Scherz war definitiv gelungener als eure dürftigen Versuche. Aber gemaßregelt werde natürlich ich.“
Mangdalan beugte sich quer über den Tisch und verpasste Valdor einen spielerischen Faustschlag auf den Oberarm. „Jetzt hör auf, den Griesgram zu spielen, und greif zu. Ist wirklich vorzüglich.“
Valdor schaute Mangdalan schief an, dann rieb er sich über den Arm. „Aua.“
„Oje“, murmelte Mangdalan. „Hoffnungsloser Fall.“ Dann zuckte er mit den Achseln und griff sich ein kuchenähnliches Teiggebäck, aus dem, als er hineinbiss, ein dunkles Mus quoll. Ihm entwich ein Laut der Wonne. „Wahnschinn!“
Cass kostete von ihrem Getränk, erst einen kleinen Schluck, sie setzte kurz ab, nickte – und gönnte sich beim zweiten deutlich mehr Inhalt. Staunend setzte sie das kunstvoll bearbeitete Glas ab. „Das ist wirklich lecker!“ Sie zupfte die Scheibe jener orangen Frucht, die auch vor Flutius’ Kate wuchs, vom Glasrand und verzehrte sie genussvoll. „Feywind, du musst das auch probieren.“
Das ließ er sich nicht zweimal sagen und nippte von seinem Kelch. „Oh“, sagte er nur. Es handelte sich um eine Art Fruchtbrei, aus dem man lediglich unterschwellig die herbe, leicht metallische Note des Alkohols herausschmeckte.
Während er den nächsten Schluck genoss, fiel sein Blick auf eine Holztafel neben dem Eingang. Daran hingen zwei auf dünnes Papier gemalte Bilder. Das untere, kleinere und krude mit Kohle gezeichnete zeigte einen Barden mit einer rattenähnlichen Kreatur. Kein Zweifel: Es kündigte Flutius’ Darbietung an.
Das größere darüber, in Farbe und mit sicherem Pinselstrich ausgeführt, zeigte das Bild einer von Schleiern verhüllten Frau, die den Betrachter über das Seidentuch vor ihrem Gesicht hinweg kokettierend anblickte, vielleicht sogar ein wenig lasziv. Feywind beugte sich zu Valdor und deutete darauf. „Was ist das?“
„Ein bemaltes Pergament.“
Feywind verdrehte die Augen.
„Ein Hinweis auf den Auftritt einer Bauchtänzerin.“
„Ah, dafür also die fünf Dinare pro Kopf.“
„Sieht so aus.“ Valdor richtete den Blick wieder auf den unangetasteten Kelch vor sich.
„Jetzt gönn dir halt einen Schluck“, sagte Mangdalan. „Deine Leidensmiene vermiest einem echt den Appetit.“
„Wie meinen?“ Valdors Blick, fast strafend, zumindest aber tadelnd, erfasste Mangdalans leer geputzten Teller. „Wie viel isst du bitte, wenn dir nichts den Appetit vermiest?“
Mangdalan grinste. „Komm, lenk jetzt nicht ab.“
Valdors schicksalsergebenem Blick folgte ein nicht minder schicksalsergebener Seufzer, ehe er tatsächlich trank. Seine Augen weiteten sich, er schaute den Kelch an, als hätte sich dieser in Herzschlagschnelle von einer Kröte in eine Fee verwandelt. „Wahrlich, das ist eine gustatorische Wendung, die ich so nicht erwartet habe.“
„Gustatorisch …“, schnaubte Cass und leerte ihren Kelch bis zur Hälfte.
Feywind musste an den baldigen Auftritt der Bauchtänzerin denken. Damals an der Akademie hatte er jemanden erzählen hören, dass die anmutigen Bewegungen einem Mann den Verstand rauben konnten. Aber nicht, weil sie zum Schluss der Darbietung alle Hüllen fallen ließ, im Gegenteil: Sie weckte Träume, und zwar so geschickt, dass im Kopf mehr geschah als beim Tanz selbst. Bei diesem Getränk verhielt es sich bestimmt ähnlich: Ihr wahres Gesicht verbarg die tückische Mischung hinter dem Fruchtgeschmack.
„Langsam“, sagte er daher. „Auch wenn man es besser trinken kann als Bier, dürfte es eine ähnliche Wirkung entfalten.“
„Ist ja gut.“ Cass setzte den Kelch ab und griff nach einer mit Speck umwickelten, dunkelbraunen Frucht. Offenbar war diese klebrig, denn sie leckte sich die Finger ab. Feywind stellte fest, dass ihm der Anblick ihrer hervorspitzenden Zunge, die über schlanke Finger strich, durchaus gefiel.
Sie sah ihn an, ließ die Hand sinken. „Möchtest du mir etwas mitteilen?“
Feywind schluckte und verlagerte seine ganze Aufmerksamkeit auf sein Getränk, umfasste den Kelch fest und führte ihn zu den Lippen. „Nein, alles in bester Ordnung“, sagte er schnell und trank, während Mangdalan leise gluckste.
Es war einer der seltenen Fälle, in denen Feywind froh war, dass Shnurk sich nicht in der Nähe befand. Der hätte es nicht bei einem Glucksen belassen. Umgehend erinnerte er sich an Shnurks Worte beim See in Jalnaptra, als Valena und Feywind noch kein Paar gewesen waren, er aber bereits Gefühle für sie hegte.
Warum nur muss die Liebe immerzu kompliziert sein?
Spar dir deinen Spott, hatte Feywind geantwortet.
Wieso sollte ich das? Sie hing vor dir wie ein Apfel, der gepflückt werden wollte.
Jetzt vermisste er Shnurk doch. Gleichzeitig musste er für sich selbst klarstellen, dass Valena und Cass nicht auf einer Stufe standen. Valena hatte er geliebt; für Cass empfand er … freundschaftliche Zuneigung.
Er nickte, um seine eigenen Gedanken zu bestätigen. Sicherlich war nicht zu leugnen, dass ihr Äußeres dazu einlud, ein paar unzüchtige Anwandlungen zu durchleben. Diese beschränkten sich jedoch auf eine reinweg hypothetische Ebene. An sich schämte er sich dafür, dass er überhaupt derlei Gedanken zuließ. Tyon und Cass – das hätte ein schönes Paar ergeben!
Als hätte ein stummer Gedankenaustausch stattgefunden, hob Mangdalan unvermittelt sein Glas und blickte ernst in die Runde. „Auf Tyon.“
Die anderen parierten, anders konnte man es nicht nennen, denn Mangdalans Gesichtsausdruck vergegenwärtigte, dass er eine Weigerung, auf einen gefallenen Kameraden anzustoßen, nicht hinnehmen würde.
„Auf Tyon“, murmelten Feywind, Cass und Valdor gleichzeitig und tranken.
Kaum hatten sie die Kelche abgesetzt, hob Mangdalan den seinen erneut. „Auf alle Kameradinnen und Kameraden, die für unsere Sache ihr Leben gaben.“
„Gut gesprochen“, sagte Feywind, aber nur Mangdalan zuliebe. In Wahrheit wollte er nichts von toten Weggefährten hören.
Abermals tranken sie.
Auch nach dieser Ehrung einstiger Waffenbrüder blieb Mangdalans Gesicht finster, als hätte der Gedanke an Tyon ihn in jene dunklen Gestade geführt, in der alte Schuldgefühle lauerten. Sogar Asthyra hatte davon gesprochen, obwohl sie Mangdalan fast ausschließlich bewusstlos erlebt hatte.
Feywind sah seinen Freund an. „Denk daran, was du kurz zuvor zu Valdor gesagt hast.“
Mangdalan atmete durch, einmal, zweimal, dann reckte er seinen Kelch über den Kopf und sah sich um. „Heda!“, rief er. Die Karathierin sah zu ihnen und nickte.
Daraufhin entspann sich eine behagliche Plauderei, die alle finsteren Täler ausließ, die sich während ihrer gemeinsamen Reise aufgetan hatten. So redeten sie über Arûbir, priesen die freiheitliche Aura der Stadt, ihre wundersamen Bauten und freundlichen Bewohner, lachten, als Feywind Trendek ibn Banas’ Gehuste und Geschniefe nachahmte, prosteten sich erneut zu – und stießen endlich auf das Leben an, nicht den Tod. Auch die Speisen fanden rasch den Weg in den Magen, sodass das Mischlicht aus Abendglimmen und flackerndem Kerzenschein aus dem Butzenglas bald über leere Teller und Kelche tanzte.
ENDE DER LESEPROBE
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