KAPITEL 1
Jalnaptra.
Ein offenes Grab, dessen dunkle Schwingungen Feywind bis ins Mark drangen und ihn frösteln ließen, obwohl er im Rücken die Wärme von Bendarils feurigem Himmelsauge spürte. Er wandte den Kopf. Wie eine Münze aus Bronze hing es tief am graublauen Himmel und übergoss das Land mit Bernstein. Den Nebel jedoch, der zwischen den verkohlten Stämmen der einst stolzen Baumriesen hing, vermochten seine Strahlen nicht zu vertreiben. Und das war auch besser so: Er verbarg, was verborgen gehörte, war das Leichentuch für all die ausgelöschten Leben und Träume, die dort unten inmitten der Skelette trieben, auf ewig verloren – aber nie vergessen.
„Nie vergessen“, wisperte Feywind und legte die rechte Hand auf die Brust, spürte die Ausbeulung des Anhängers, in dem ein Funken Hoffnung ruhte. Ebenso spürte er seinen Herzschlag, dieses schnelle, fast panische Pochen, das er nicht kontrollieren konnte, seit Nalda, Shnurk und er den Rand des Kraters erreicht hatten. Er schluckte, atmete durch und schaute zur Elfe.
Still stand sie da, den Blick auf die einstige Heimat gerichtet. Keinerlei Regung offenbarte ihre Miene, obwohl all die Erinnerungen an diesen Ort sich bestimmt durch ihre Brust wühlten. Kühl wie die Brise wirkte sie, die an ihrem hellen Haar zupfte, das von einem ledernen Stirnband zurückgehalten wurde. Doch Feywind wusste, diese Beherrschtheit war lediglich ein Schutzwall, den sie errichtet hatte. Ein Riss in diesem Bollwerk, und das düstere Schicksal Jalnaptras würde sie in Fetzen reißen. Sie blinzelte, seufzte und schaute Feywind an. Ein Schatten trübte das Blau ihrer Augen. „Ich weiß nicht, ob ich das kann.“
„Ich auch nicht“, entgegnete er und atmete erneut tief durch, da er das Gefühl hatte, Eisenbänder umschlössen seinen Brustkorb. Seit Ardantes ihm eine Länge Elfenstahl in den Körper getrieben hatte, kannte er diesen Druck beim Atmen, vor allem, wenn er sich zu sehr anstrengte.
Oder zauberte.
Das Leben hatte Ardantes ihm zwar nicht genommen, wohl aber einen entscheidenden Teil seiner selbst: seine Magie.
Sie war da, sie gehorchte ihm, sie wollte mit ihm verschmelzen und er mit ihr, doch wenn er in den Strom arkaner Macht griff, war es nur ein Fingerhut, den er schöpfte. Den Belastungen eines anspruchsvollen Zaubers hielt der Körper nicht stand. Oft hatte er es versucht – und war gescheitert: Schwärze flackerte vor seinen Augen, und der Zauber verlosch weit vor der Vollendung.
Er war ein Verdurstender, der unter einem Wasserfall stand, ohne dass ein Tropfen davon seine Zunge netzte. Verärgert ballte er die Fäuste. Daran durfte er jetzt nicht denken!
„Wir hätten nicht kommen sollen“, sagte Nalda in das Schweigen hinein. Sie streckte die Finger der linken Hand und schaute auf den silbernen Ring. Ein Seufzen floss ihr über die Lippen, ehe sie die Hand wieder sinken ließ.
„Auch ich vermisse ihn.“
Sie nickte und schaute wieder auf Jalnaptra.
Mangdalan war in Wallstadt geblieben, um irgendwie zu versuchen, all die verschiedenen Kräfte, die nun am Westreich zerrten, in eine gemeinsame Richtung zu lenken. Die Inquisition war zerschlagen, die Gefahr durch die Demoguren gebannt – zumindest im Moment. An sich ein Grund zur Freude, aber weit gefehlt: Es gab keinen König, denn Irtides war tot. Da er keine Nachkommen hatte, schwelte im Hintergrund ein Ringen um die Thronfolge. Noch geschahen diese Winkelzüge, Seilschaften und Schulterschlüsse im Verborgenen. Aber das konnte sich ändern. Der Winter war entbehrungsreich und hart gewesen. Jetzt war Frühling. So, wie die Natur ihre grünen Säfte anschickte, damit Knospen zu Blüten wurden, so regten sich auch einzelne Fürsten. Ihre Bestrebungen jedoch würden keine schillernde Farbenpracht hervorbringen, sondern das Schwarz des Bürgerkriegs. Dies wollte Mangdalan um jeden Preis verhindern. Als Rächer von König Irtides und Bezwinger der Inquisition hatte sein Wort Gewicht. Jedoch war er nicht von Adel – und hatte somit keinen legitimen Anspruch auf den Thron. Was die Zukunft bringen würde, konnte niemand sagen.
Einst wäre ich optimistisch gewesen, dachte Feywind. Nun allerdings gehe ich davon aus, dass die Erde des Westreichs das Blut ihrer eigenen Soldaten trinken wird …
Wieder so ein Gedanke, der die Tür aufstieß zu dieser düsteren Ebene in seinem Inneren, die er nach Valenas Tod viel zu oft durchwanderte. Doch bevor er sie betrat, lenkte ihn eine Silhouette ab, die am aufhellenden Himmel erschien. Feywind lächelte und schaute zu, wie sie größer und größer wurde. Schließlich landete ein ziemlich gut herausgefütterter Schrumpfdrache neben ihm und legte die an den Rändern zerfransten Flügel an den Körper. „Keine Menschenseele weit und breit“, sagte er und schöpfte ein paar Mal tief Atem. „Und auch keine Elfenseele. Alles wie ausgestorben.“
Nalda sah ihn an ausdruckslos an, woraufhin Shnurk sich räusperte und sein Körper die Farbe blassen Purpurs annahm. „Ähm, tut mir leid. Ich hätte das auch … anders sagen können.“
Feywind stemmte die Arme in die Hüften und zog die rechte Augenbraue hoch. „Du bist ein Eidbrecher, Shnurk.“
Dessen gelbe Augen weiteten sich. „Wie bitte?“
Mit dem Zeigefinger deutete er auf Shnurks spitz zulaufende Schnauze. An einem der scharfen Zähne hatte sich ein Fellfetzen verfangen. Ein Tropfen frischen Blutes klebte daran. „Keine zusätzlichen Mahlzeiten“, sagte Feywind kopfschüttelnd. „Das war dein Schwur, bevor wir aufbrachen.“
Shnurks Zunge wischte über die Lippen und zupfte das Büschel weg. „Eine Verkettung äußerst unglücklicher Umstände“, sagte er, nachdem er geschluckt hatte.
Nalda schnaubte und wandte sich ab, während Shnurk sich räusperte und Feywind reumütig ansah. „Wirklich, überaus unglückliche Umstände sogar! Ich flog umher, um die Umgebung auszukundschaften. Übrigens war das dein Ansinnen, wollte ich nur gesagt haben. Jedenfalls, während ich unter größter körperlicher Anstrengung meine Kreise zog, erfasste mich ein geradezu bedrohlicher Schwindel. Unter Aufbietung all meiner Konzentration gelang es mir, meinen Sturz abzufang…“
„Shnurk.“
„Was denn?“
„Ich bitte dich. Gib doch einfach zu, dass du schwach geworden bist.“
„Überhaupt nicht.“ Shnurk blies einen Dampfring aus den Nasenlöchern. „Wie bereits erwähnt konnte ich meinen Sturz bremsen – wenn nicht, wäre das mein sicherer Tod gewesen, nur damit du Bescheid weißt – und landete zufällig direkt auf einem Feldhasen, der durch den Aufprall leider verstarb.“
„Kein Wunder. Auch ein Büffel hätte das nicht überlebt.“
Shnurks Farbe wechselte zu Rot. „Deine schlechten Scherze über meine Leibesfülle nutzen sich langsam ab.“
Feywind lachte. „Ich darf an deine Flugeinlage in Wallstadt erinnern.“
„Das war im Winter! Da legt jeder Schrumpfdrache Speck an!“
„Du warst so ein Wonnebatzen, dass du durch das Dach des Reitstalls gekracht bist.“
„Genötigt hast du mich dazu, so sieht´s aus!“
„Papperlapapp. Du wolltest mir beweisen, dass du noch lange nicht zu dick zum Fliegen bist. Ist ordentlich schiefgegangen.“
Verschnupft reckte Shnurk die Nase zur Seite und schaute demonstrativ weg. „Hast du gesehen, wie erhaben und majestätisch ich soeben durch die Lüfte geschnitten bin?“
Feywind verschränkte die Arme vor der Brust. „Und wie konnte das mit dem Feldhasen dann passieren?“
„Nur, weil du mich zu so unsäglichen Schindereien zwingst!“
„Wir einigen uns auf Folgendes: Du hast den Hasen absichtlich gefressen und damit dein Gelübde gebrochen. Was das bedeutet, ist klar, oder?“
„Du verlangst das wirklich?“
„Ja.“
„Ich kann nicht fassen, dass du deinem treuen Freund so …“
„Hört sofort auf!“
Shnurks Kiefer klappten zu. Auch Feywind erschrak und wandte sich um.
„Ihr könnt wo immer und wann immer ihr wollt herumalbern“, sagte Nalda schneidend. „Aber nicht hier!“
Betroffen schaute Feywind sie an, sagte jedoch nichts. Den Kopf gesenkt, zog Shnurk mit dem rechten Fuß eine Furche in den Boden, sein Farbton ein gehauchtes Rot.
Nalda legte die Hände vor Mund und Nase, sodass sie über die Kuppen der Finger hinweg auf ihre zerstörte Heimat blickte. Dann murmelte sie etwas auf Elfisch in die Handflächen, ließ die Arme sinken und setzte sich in Bewegung.
Als sie außer Hörweite war, murmelte Shnurk: „Ich werde dort keine Kralle auf den Boden setzen, sondern mich in den Bäumen verstecken.“
„Würde ich auch, wenn ich es könnte.“
Shnurk schaute zu Nalda, die weder innehielt noch sich umblickte, sondern zielstrebig den Talkessel hinabschritt. „Sie ist unglaublich stark.“
„Das ist sie.“
„Sind wir es auch?“
Feywind seufzte. „Müssen wir sein.“
„Vor allem du, ehrlich gesagt. Es war deine Idee, nach Jalnaptra zurückzukehren.“
„Mir gefällt sie mit jedem Herzschlag weniger.“
„Dafür ist es zu spät.“
„Ja.“ Feywind legte die Hand auf den Griff seines Schwertes aus Elfenstahl und folgte Nalda. Verdorrte Farnhalme knisterten unter den Stiefeln. Nirgends ein grüner oder bunter Farbtupfer, nur verwelktes Pflanzenwerk, so weit das Auge reichte. Es war, als läge der Krater unter einem Bannzauber, der dem Frühling den Zugang verwehrte zu jenem Ort, an dem Feywind sowohl die wunderbarsten als auch die schrecklichsten Erfahrungen seines Lebens gesammelt hatte. Hinter sich hörte er ein Rascheln.
Shnurk tapste hinter ihm her.
„Ich dachte, du wolltest fliegen.“
„Später. Selbst meine Kräfte sind begrenzt.“
Obwohl ihm gar nicht danach zumute war, musste Feywind lächeln: Shnurk bei sich zu haben, tat ihm gut. Sein Freund war auch eine Art Bannzauber, ein Bannzauber gegen allzu finstere Gedanken.
„Glaubst du eigentlich wirklich daran?“, fragte Shnurk, nachdem sie die Hälfte des Abstiegs bewältigt hatten.
„An was?“
„Dass wir auf Aufzeichnungen von Naldas Mutter stoßen.“
„Ich hoffe es zumindest.“
„Was ist, wenn wir nur über ihre knöchernen Überreste stolpern?“
„Dann kann Nalda diese zumindest beerdigen.“
Shnurk ließ ein tiefes Schnaufen vernehmen. „Sie hat ihren Vater verloren, ihre Schwester und auch ihre Mutter. Letztere sogar durch einen Dämon. Ihr Kummer muss unermesslich sein. Und du lässt sie mitten hineinlaufen in all diese schrecklichen Erinnerungen.“
„Ich weiß.“ Feywind ging rascher zu, da Shnurks Worte direkt in sein Herz schnitten, so mühelos wie die Klinge eines Meuchlers, die durch die schmalen Fugen zwischen den Platten einer Rüstung glitt. Ja, es stimmte: Allem voran war es Eigennutz gewesen, der ihn dazu getrieben hatte, Nalda zu überreden, ihn zu begleiten. Ohne sie würde er das nicht schaffen. Sie war stark. Und er war es nicht. Er rieb sich über das rechte Handgelenk und streifte den Ärmel zurück. Tiefschwarz und bösartig prangte dort das Siegel des Dämonenfürsten, ein Muster aus Dornen, die sich ineinander wanden. Er blieb stehen und wandte den Blick zur Himmelskuppel. Doch weder Antworten schwebten dort, noch Vergebung.
Er bemerkte Shnurks Blick und schob den Ärmel wieder über das Mal. „Ich muss es loswerden. Irgendwie.“
„Ja“, seufzte Shnurk. „Fragt sich nur, was du alles dafür opfern musst.“
Zorn wallte in Feywind, doch bevor er diesem freien Lauf lassen konnte, sah er, dass Nalda ruckartig stehenblieb, einen Pfeil aus dem Köcher fischte und wachsam in den Nebel spähte, der seine wallenden Ausläufer bis jenseits der ersten Bäume Jalnaptras trieb. Mit einem leisen Fluch zog Feywind sein Schwert und lief zu ihr. Auch wenn er nicht zaubern konnte, würde er ihr zumindest mit seiner Klinge zur Seite stehen, auch wenn seine Fertigkeiten diesbezüglich zu wünschen übrig ließen.
„Was ist?“
„Wir sind nicht allein.“
Angst tauchte ihr Ruder in Feywinds Magen und pullte kräftig. „Der Wächter?“
ENDE der Leseprobe
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